Zwischen Traum und Tyrannei

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David Farrs "Das Buch der gestohlenen Träume" entführt uns in ein faszinierendes Abenteuer durch die fiktive Nation Krasnia, die unter der grausamen Herrschaft des Diktators Charles Malstain leidet. Im Mittelpunkt stehen die Geschwister Rachel und Robert Klein, die nach der Verhaftung ihres Vaters und dem Tod ihrer Mutter in den Besitz eines mysteriösen Buches gelangen, das die Kraft besitzt, die Grenze zwischen Leben und Tod zu überwinden.

Was mich sofort fesselte, war die beklemmend realistische Darstellung einer Gesellschaft unter totalitärer Herrschaft. Farr erschafft eine Atmosphäre der Angst, in der jedes falsche Wort gefährlich werden kann. "Ein Schatten ist über das Land Krasnia gezogen. Und die Menschen haben Angst", schreibt er gleich zu Beginn und setzt damit den Ton für eine Geschichte, in der Kinder zu unfreiwilligen Helden werden müssen.

Die Hauptfiguren sind hervorragend gezeichnet. Rachel, die zunächst schüchterne Träumerin, wächst im Laufe des Buches über sich hinaus und entwickelt eine beeindruckende innere Stärke. Ihr wissenschaftlich veranlagter Bruder Robert bildet dazu einen wunderbaren Kontrast. Die Dynamik zwischen den Geschwistern fühlt sich authentisch an – mit allen Reibereien und dem tiefen Vertrauen, das sie verbindet.

Farrs Prosa ist klar und zugänglich, ohne dabei oberflächlich zu wirken. Er findet eine bemerkenswerte Balance zwischen kindlicher Perspektive und philosophischer Tiefe. Besonders beeindruckt haben mich die im Buch verstreuten Traumgedichte, die nicht nur atmosphärisch sind, sondern auch die Handlung subtil vorantreiben: "I sleep to find myself waking/I am in a walled garden of a thousand flowers/The birds are singing silently/Their perfect songs".

Die Weltbildung erfolgt organisch. Statt uns mit Informationen zu überhäufen, entdecken wir die dystopische Realität Krasnias durch die Augen der Kinder. Farr schafft es dabei, trotz der düsteren Thematik Momente der Hoffnung und des Wunders einzustreuen – etwa wenn Rachels und Roberts Vater das graue Alltagsleben durch fantasievolle Rollenspiele in der Wohnung aufhellt.

Was mich besonders zum Nachdenken anregte, war die Frage nach dem Umgang mit Verlust und der moralischen Verantwortung, die mit großer Macht einhergeht. Darf man die natürliche Ordnung zwischen Leben und Tod stören, selbst wenn man dafür geliebte Menschen zurückholen könnte? Das Buch bietet keine einfachen Antworten und vermeidet dabei jeden moralisierenden Unterton.

Wenn ich etwas kritisieren müsste, dann vielleicht den gelegentlich etwas zu starken Fokus auf Action in der zweiten Hälfte, wo mir ein tieferer Blick in die psychologischen Konflikte der Hauptfiguren noch mehr bedeutet hätte. Zudem wirken einige der Nebenfiguren, besonders unter Malstains Anhängern, manchmal etwas eindimensional.

Die Auflösung ist emotional befriedigend, ohne in Sentimentalität abzudriften. Der letzte Abschnitt hat mich tief berührt und lässt mich mit dem Gefühl zurück, eine bedeutsame Reise erlebt zu haben.

"Das Buch der gestohlenen Träume" erinnert mich an Klassiker wie "Die unendliche Geschichte" oder neuere Werke wie "Der Ozean am Ende der Straße", findet aber mit seiner einzigartigen Mischung aus Märchenhaftem und Politischem seine ganz eigene Stimme. Es ist ein Buch, das sowohl junge als auch erwachsene Leser ansprechen wird und noch lange nachhallt.