Ein Gruselkabinett der etwas anderen Art!

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
lesekrabbe Avatar

Von

„Das Buch der Phobien und Manien - die Welt in 99 Obsessionen“, von Kate Summerscale ist ein besonderes Buch, das sich eher als eine Art Lexikon verstehen lässt, das die verschiedensten Fixierungen (Obsessionen) zusammenfasst, die den Menschen, sein Verhalten, Denken und Fühlen vom Mittelalter bis in die moderne Zeit hinein begleiten (und oftmals auch „bestimmen“).
Das Buch selbst fühlt sich in den Händen gut und edel an, das Cover ist mit einer hervor stechenden Spinne passend gewählt, der Einband ist aus Leinen und die Lettern liebevoll in goldener Farbe gehalten. Es ist qualitativ hochwertig.
Die Stimmung, die das Buch auslöst – noch bevor man es aufgeschlagen hat – erinnert mich an die Aufregung, Neugierde und leichte Ängstlichkeit, die man verspürt, wenn man vor einer Gespensterbahn auf dem Rummel steht und nicht so richtig weiß, soll ich hinein gehen oder nicht... aber die Neugierde und das Bedürfnis nach einem Adrenalinkick sind stärker... Fehlt nur noch das Knarren der Waggons beim Aufschlagen des Buches, wenn sich der Vorhang öffnet zur Einfahrt in die Geisterwelt:
Das Gruselkabinett der menschlichen Psyche und ihre 99 faszinierenden Abgründe.
Die „Gespenster“, die den Menschen in Summerscales Kompendium heimsuchen, sind Ängste vor den verschiedensten Dingen, Taten, Personen, Ideen, Zuständen, Tieren, Vorgängen, genauso wie Zwänge verschiedenster Art, die bestimmt jeder von uns in abgeschwächter oder stärkerer Form kennt.
Bevor diese einzelnen Phobien (Ängste) und Manien (Besessenheiten/Zwänge) näher erläutert werden, gibt die Autorin in der Einführung einen kurzen, verständlichen Abriss über die Entstehungsgeschichte der Theorie über diese Obessionen. So erwähnt sie einen der Gründerväter der Vereinigten Staaten, Benjamin Rush, der als Erster all den seltsamen Anwandlungen und Verhaltensweisen der Menschen im 18. Jahrhundert Namen gab. Dies ist wichtig, denn man kann nur etwas erforschen, wenn man das Phänomen benennt. Somit ließen sich die seltsamen Attitüden und Handlungen der Betroffenen zumindest beim Namen nennen. Die Frage nach dem „warum“ blieb und wurde später Gegenstand zahlreicher Studien von Medizinern, Psychiatern, Evolutionsbiologen und Psychologen.
Gesichert scheint bis heute, dass viele Ängste vor allem ein evolutionäres Erbe sind, das uns vor Gefahren bewahrt. Hätten wir diese Ängst nicht, würden wir uns gefährlichen Risiken ausliefern, giftige Schlangen streicheln und in tiefster Dunkelheit einen fremden Wald betreten und uns den Raubtieren überlassen.
Unsere Ängste haben daher die wichtige Funktion des Selbstschutzes (Überleben).
Im späteren 19. Jahrhundert gesellten sich noch weitere Phobien und Manien zu Rush Liste. Doch nicht alles, was Angst macht, ist Ausdruck eines sinnvollen, biologischen Instinktes. Warum werden wir leicht panisch, wenn wir unser Handy nicht finden? Oder es gerade nicht bei uns liegt? („Nomophobie“: die Angst ohne Handy zu sein, abgeleitet von: no-mobile-phone-phobia). Wer kennt es nicht? Das Aufatmen, wenn man sein Handy wieder gefunden hat. Oder hat es mich gefunden?
Habe ich Angst oder hat die Angst mich? Wo liegt nun die Grenze zwischen ernsthafter Erkrankung (Phobie/Manie) und dem individuellen Spleen, dem leichten Knall, der uns auch einzigartig und liebenswert macht und ganze Kollektive betreffen kann? Um dem Leser/der Leserin hier eine bessere Orientierung zu ermöglichen, zählt Summerscale die wichtigsten Kriterien auf, um Phobien und Manien zu klassifizieren und von eher alltäglichen Ängsten und leichten Zwängen zu unterscheiden.
Diese Kriterien, welche im „Diagnostischen und Statistischen Manual psychischer Störungen 5 (DSM 5, 2013)“ der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft festgehalten sind, dienen als professionelle und verbindliche Richtlinie.
Es ist durch diese Kriterien ein Realitätsabgleich möglich, für all diejenigen, die vielleicht latent vermuten, dass sie mehr als ängstlich vor einer Sache oder Person sind oder mehr als ziemlich verrückt nach etwas. In jedem Fall sind diese zu Beginn eher etwas trockenen Informationen für später sehr dienlich und ein wichtiges Handwerkszeug, um sich selbst positionieren zu können, vorausgesetzt, man ist hier ehrlich mit sich selbst. Hoffnung gibt es für echte Betroffene natürlich auch, denn Phobien und Manien lassen sich gut behandeln (kognitive Verhaltenstherapie).
Besonders beeindruckend ist aber, dass Ängste oft aus dem „Nichts“ heraus entstehen können, z.B. durch einen Schock, aber eben auch durch langanhaltende Prozesse wie Konditionierung, der Sozialisation an und für sich und Überlieferungen (kulturelles Erbe). Ängste und Phobien sind immer einem gesellschaftlichen Wandel unterworfen und unter Berücksichtigung aktueller Entwicklungen in diesem Kontext auch am besten zu verstehen. Was der Mensch jeden Tag erlebt, prägt ihn. Es kann tatsächlich jeden treffen und es kann ganze Kollektive treffen.
Daher erachte ich das Buch von Summerscale als einen wertvollen Beitrag, um das Wissen auf diesem Gebiet zu erweitern, denn Wissen kann Sicherheit vermitteln und diese wiederum kann Ängste reduzieren. Hier wäre es auch spannend, im Rahmen einer Fortsetzung, näher zu analysieren, inwieweit wir wirklich ein selbstbestimmtes Leben führen oder ob wir doch eher „gelebt“ werden, indem viele auch unnötige Ängste und Zwänge z.B. durch gesellschaftliche/politische Regulierungen erzeugt werden, die uns dann wieder im Griff haben (sollen?). Auch die Medienlandschaft sollte man hier kritisch betrachten und was diese im Menschen alles auslöst (Stichwort Sekundärtraumatisierung: auch der Schock, den ein anderer erfährt, kann einen selbst „schockieren“, so dass Spuren zurück bleiben).
Ernüchternd und etwas deprimierend fand ich dann die Tatsache, dass Frauen doppelt so häufig wie Männer an Ängsten leiden, was auf das ihnen eher feindlich gestimmte, gesellschaftliche Umfeld zurück geführt wird (persönliche Anmerkung: das Patriarchat ist einfach überholt). Das gibt einem sehr zu denken, da Frauen eine große Verantwortung für das Überleben unserer Spezies tragen und gerade diese sollten sich meiner Meinung nach „sicher“ fühlen.

Kate Summerscale hat das Buch auch mit einer ordentlichen Prise Humor gewürzt, so dass man sich vom ein oder anderen „Schock“ erholen kann. Es tauchen an der ein oder anderen Stelle Phobien und Manien auf, die die nicht ganz ernst zu nehmen sind, die es aber geben könnte (Z.B. die Angst vor langen Wörtern: Hippopotomonstrosesquippedaliophobie).
Das regt den Leser/die Leserin dazu an, selbst kreativ zu werden und den Alltag nach Phobien und Manien regelrecht zu durchforsten, selbst welche zu erfinden. Hier kann ich mir sogar einen Einsatz in der Schule (Sekundarstufe, Fächer Deutsch und Psychologie, neue Wörter schöpfen) gut vorstellen, denn zum Einen ist es sehr wichtig, über diese Phänomene Bescheid zu wissen, zum Anderen vermittelt es immer Sicherheit, einem Ding, einer Erscheinung oder Erlebnis einen Namen zu geben und es somit greifbarer zu machen, nach dem Motto, Gefahr erkannt, Gefahr gebannt. Man ist sich selbst nicht mehr so ausgeliefert und entwickelt auch für sein Gegenüber mehr Verständnis. In jedem Fall wird die eigene Kreativität angeregt: Im Rahmen der Corona-Pandemie könnte man hier das ein oder andere Phänomen auf humorvolle Weise dem privaten Kompendium beifügen (es muss ja niemand wissen):

1. Auto-Solo-Maskomanie: besessen sein davon, im Auto eine Maske zu tragen, auch, wenn man alleine unterwegs ist.
2. Maskophobie: Die Angst bzw. regelrechte Panik davor, (schon wieder) eine Maske tragen zu müssen.
3. Aeromanie: verrückt nach frischer Luft sein und dauernd draußen sein wollen, nach all dem Masken tragen müssen.
4. Vaccinomanie: Die Sucht nach dem nächsten Schuss/Booster.
5. Vaccinophobie: Die Angst vor den Impfungen.
6. Spikophobie: Die Angst vor dem Spikeprotein.
Usw..

Anmerkung zur Lektüre:
Da das Buch eigentlich ein Lexikon ist, braucht man es nicht unbedingt am Stück durchlesen, für den ein oder anderen kann das evtl. auch ermüdend sein, da es viel und komprimiertes Wissen vermittelt. Pausen lassen sich hier sehr gut einlegen, Kapitel können übersprungen und später gelesen werden, ganz nach Belieben, ohne dass man den Anschluss verpasst. Die Kapitel hängen inhaltlich nicht voneinander ab.
Das Inhaltsverzeichnis macht es einem leicht, rasch einen guten Überblick über die 99 alphabetisch sortierten Obessionen (auf Latein) zu bekommen, die deutschen Übersetzungen stehen dahinter.
So kann man sich auch das Thema heraussuchen, das einen besonders interessiert.
Alle Obsessionen, also Phobien und Manien, sind gut erklärt und in teilweise sehr spannende Geschichten nach wahren Erlebnissen verpackt, so dass man automatisch neugierig wird auf die nächste Episode.

Empfehlung:
Zusammenfassend möchte ich das Buch von Kate Summerscale allen empfehlen, die sich für Psychologie und gesellschaftliche Phänomene interessieren, für die Psyche des Individuums aber auch für die „Seele“ eines Kollektivs. Es eignet sich hervorragend für alle, die ihren Horizont erweitern und sich selbst besser kennen lernen wollen, ihr Mitgefühl schulen möchten oder sich einfach ein bisschen gruseln wollen, der Schauer auf dem Rücken ist garantiert.
Abschließend gebe ich noch die Empfehlung, einen Blick in die Literaturangaben am Ende des Buches zu werfen: Die Recherechen zu diesem Buch sind beeindruckend, auch hier findet sich genug Stoff zum Lesen und Recherchieren, wenn man am Thema dranbleiben möchte.