All die einsamen Seelen

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bücherhexle Avatar

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Im Mittelpunkt des neuen Romans von Robert Seethaler stehen die einfachen Menschen im Wien der Jahre 1966 bis 1976. Protagonist ist der anfangs 31-jährige Robert Simon, der bisher als Gelegenheitsarbeiter auf dem Karmelitermarkt arbeitete. Als Kriegswaise konnte er nicht lange zur Schule gehen. Nun erfüllt er sich seinen Traum, als er die Gasträume des ehemaligen Marktcafés am Karmelitermarkt anpachtet. Sie sind nicht nur abgestanden, sondern auch verdreckt, feucht und in die Jahre gekommen. Es gibt viel zu tun, doch Robert geht mit viel Tatkraft und Idealismus an die anstehenden Aufgaben.

Die Arbeit lohnt sich. Das Café, in dem es neben verschiedenen Getränken nur eine kleine Auswahl an einfachen Gerichten gibt, wird von den Menschen der Umgebung und den Marktbesuchern gut angenommen. Bald schon kann der sympathische Robert mit der arbeitslosen Näherin Mila eine tatkräftige Kellnerin einstellen und sich später sogar einen Ruhetag gönnen. Dennoch bleibt kaum Freizeit. Robert wohnt bei einer älteren Kriegerwitwe zur Untermiete, die ihm immer wieder mit praktischen Ideen zur Seite steht. Im Gegenzug übernimmt er Einkäufe oder unterstützt die ältere Dame, wenn sie Hilfe braucht. Roberts bester Freund Johannes betreibt die dem Café gegenüberliegende Metzgerei. Seine Familie wächst schnell, oft hat er Angst, sie nicht satt zu bekommen, zumal seine Ehefrau psychisch belastet ist. Mila verliebt sich in René, den gutmütigen aber unzuverlässigen Ringer vom Heumarkt, der Sympathien für den Kommunismus hegt… Derlei Geschichten gibt es viele.

Es gelingt dem Autor ganz hervorragend, das Leben der einfachen Menschen in schwierigen Zeiten zu portraitieren. Er fängt das Flair der Stadt wie der Zeit ein und zeichnet eine authentische Milieustudie, in der er die Sorgen, Nöte und Hoffnungen, aber auch die Solidarität der Arbeiterklasse an konkreten Beispielen veranschaulicht. Verschiedenste Charaktere kommen ins Café: Arbeiter mit teilweise ungewöhnlichen Berufen, Tagelöhner, Säufer, Händler, Künstler, auch ganz normale Leute. Jede Figur hat ihre Geschichte, die der Leser kennenlernen darf. Sei es durch die Handlung an sich, sei es durch „belauschte“ Gedankengänge oder Gespräche an den verschiedenen Tischen. Der Eine träumt von Amerika, der Andere von besseren Arbeitsbedingungen und mehr Gerechtigkeit, die Nächste sinnt über eine im Fluss gefundene Selbstmordleiche nach. Wirklich glücklich scheint niemand zu sein. Man ist bescheiden, zu sehr drücken Alltagsnöte und die Sorge um das tägliche Brot. Mit diesen wechselnden Erzählperspektiven gelingt es, Stimmungen und Flair der Zeit einzufangen, auch wenn sich für mein Empfinden nicht jede Sichtweise völlig organisch in die Handlung einfügt.

Der Erzählton ist gleichmäßig ruhig und lakonisch, wie man ihn aus Seethalers Romanen kennt. Der Autor beschreibt seine Figuren sehr warmherzig und wendet sich ihren Schicksalen und kleinen Freuden intensiv zu. Der Text wird dabei von einer latenten Melancholie durchzogen, wodurch er ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit gewinnt. Seethaler erschafft schöne Bilder, so dass man sich die bescheidene, noch vom Krieg gezeichnete Umgebung visuell vorstellen kann, was Kennern der Stadt Wien sicherlich noch besser gelingen dürfte als mir. Man taucht von der ersten Zeile an ins Geschehen ein, nimmt regen Anteil am Leben der Café-Gesellschaft. Obwohl die Handlung relativ unspektakulär und unaufgeregt daherkommt, weiß sie zu fesseln. Man möchte stets wissen, wie es weitergeht. Bis zum Ende bleibt Seethaler Realist, er bringt seine Geschichte seriös zu Ende, ohne der Versuchung einer Romantisierung zu erliegen. Der Autor streut zudem immer wieder reale historische Begebenheiten aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ein, mit deren Hilfe man den Roman zeitlich gut verorten kann.

Ein sehr lesenswerter Roman, der an Seethalers große Erfolge anknüpfen kann. Große Lese-Empfehlung!