Atmosphärisch dicht

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mike nelson Avatar

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Atmosphärisch dicht. Das ist eine Schreib-Kunst, die Robert Seethaler beherrscht wie kaum ein Zweiter - auf nicht überbordend vielen Seiten eine Welt entstehen zu lassen, den Figuren mit nur wenigen Pinselstrichen eine Tiefe zu geben und die Lesenden in eine dichte Atmosphäre eintauchen zu lassen, aus der sie sich am liebsten nie wieder verabschieden mögen. Und genau das ist dem Autor auch in seinem aktuellen Roman "Das Café ohne Namen" wieder einmal gelungen. Eigentlich eine belanglose Geschichte - nämlich die eines Cafés in den auslaufenden 60-er Jahren Wiens. Ein Ort für die kleinen (Lebens-) Geschichten: Da ist Robert Simon selbst, als Betreiber des Cafés, wohnhaft bei einer Kriegswitwe und zwischendrin ein wenig in Jascha verliebt; da ist der Metzgermeister von gegenüber, dessen Frau immer wieder aufs neue Kinder gebären muss, damit ihr Leben nicht sinnentleert ist; da ist die Bedienung Mila, die mit einem Alkoholiker liiert ist und da sind die beiden alten Damen, die täglich kommen und wie Chronistinnen des Geschehens rund um das Café und rund um Wien wirken, aber gleichzeitig auch Chronistinnen der Veränderung sind und altersweise Gedanken von sich geben: "Wenn alles traurig wird, muss man sich eine innere Fröhlichkeit bewahren. Es gibt nichts Hässlicheres als depressive, alte Menschen. Man sollte sich lieber dem Schwachsinn nähern als der Verbitterung... Man ist dem Wein dankbar, dass er immer noch schmeckt, dem Körper, dass er ihn immer noch verträgt, und der Rentenkasse, dass sie alles finanziert." Als am Ende das Café schließen muss, wird sehr deutlich, dass nichts mehr so bleiben wird, wie es einmal war... dass der nicht mehr zu stoppende Wandel Fahrt aufgenommen hat... und dass ein Lebensgefühl dabei auf der Strecke bleiben wird, dem Einzelnen seine Heimat in der Gemeinschaft genommen wird, der Aufschwung seine Opfer haben wird... Sinnbild dafür ist der Brückeneinsturz am Ende und das große Abschiedsfest für das Café ohne Namen - welches fast schon ein Fest aus Verzweiflung ist. Ein großartiger Roman!