Melancholisch-Schön

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merkurina Avatar

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Wenn ich durch die Straßen Wiens gehe als Gast erlebe ich die Stadt umweht von einer feinen Atmosphäre, etwas melancholisch, etwas behaglich, etwas widerständig und per se immer ein bisschen nah zu literarischen Vorstellungswelten. Diese Atmosphäre finde ich wieder in diesem bezaubernden Buch. Obwohl das Leben derer, die sich im Café ohne Namen treffen, nicht einfach ist, scheint alles in eine gewisse menschenfreundliche Zartheit getunkt, in Langsamkeit, Genauigkeit und vielleicht auch wissende Anspruchslosigkeit. Das Buch spielt in einem Milieu der Arbeiter und Arbeiterinnen, Saufkumpanen, Spielfreunde, Süchtigen aller Art, Versehrten und Verschmähten - und dabei lässt die sanfte Beschreibung der Szenen und Personen ihnen ihre Würde, vielleicht gibt sie sie ihnen sogar erst. Es wird gelästert, verabscheut, geneidet und gestritten, es gibt Eifersucht und Widerwillen und Scheitern - trotzdem: Traurigkeit und Menschlichkeit gehen Hand in Hand und die Zeit rinnt leise und bedächtig durch die Zeilen.
Zugleich entsteht ein Sittenbild des Nachkriegs-Wiens und der Stadt in der Phase des sich anschließenden Wirtschaftswachstums, insbesondere im Wiender dritten Bezirk rund um die Taborstraße und den Karmelitermarkt. Selten verlassen die Wege die Leopoldstadt, allenfalls führen sie zu den Kaimauern der Donau. Dieses Viertel indes ist einstmals eines gewesen, indem die jüdische Bevölkerung ein Zuhause hatte und heute, viele Jahrzehnte nach der nationalsozialistischen Zeit, bildet sich wieder ein jüdisches Gemeindeleben in dieser Gegend heraus. In den 1950er und 60er Jahren wird es keine Rolle gepielt haben, die Vertreibung und Vernichtung hatte ihr schreckliches Werk getan. Und von der Erinnerung an ehemalige jüdische Nachbarn oder deren Spuren spricht in diesem Buch auch keine der Personen. Das wird authentisch sein, es war in Deutschland ja auch so. Es ist dem Buch nicht vorzuwerfen, glaube ich, aber unerwähnt lassen möchte ich es auch nicht.
Last not least vermerke ich als Lesebändchen-Enthusiastin: Die Ausstattung dieses Bändchens ist auch in dieser Hinsicht fein!