Surreal

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alasca Avatar

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Warnung: Dies ist ein besonderes Buch, mit einer sehr besonderen Heldin. Wer einen klassischen Krimi erwartet, wird enttäuscht werden - man braucht schon einen ausgeprägten Sinn für das Abseitige, um dieses Buch zu mögen.

Claire DeWitt, Ermittlerin in San Francisco, arbeitet nach den Grundsätzen des fiktiven Meisterdetektivs Jacques Silette, den sie ständig zitiert, als wäre er eine Art Prophet. Es gilt nicht, die Wahrheit zu finden, denn die ist bereits vorhanden, sondern eher, sie gegen zahlreiche innere und äußere Widerstände (auch des Auftraggebers) zu erkennen.

Noch eine Warnung: Die Philosophie von Silette ist für rationale Menschen schwerverdaulich; sie kommt in verschwurbelten Sätzen daher, deren Bedeutung sich wahrscheinlich nur unter Vollkoks erschließt. Aber Gran beschreibt ihn und sein Leben so eindringlich, dass ich ihn gegoogelt habe: Nein, es hat ihn definitiv nie gegeben.

Die Welt dieser schrägen Noir-Perle ist voller verlorener Kinder, die versuchen, die Brotkrumen im Wald zu finden; jeder ist tätowiert, Fan obskurer Insider-Rockbands, hat bereits ungezählte Chancen vertan und smalltalkt in grungigen Clubs über die Qualität des Kokains verschiedener Dealer.

In diesem ebenso esoterischen wie düsteren Setting löst Claire ihre Fälle. Nicht, dass sie die klassische Detektivarbeit vernachlässigen würde - die Recherche erledigt ihr euro-afro-japanischer Assistent Claude. Aber darüber hinaus verlässt sie sich lieber auf ihre Intuition und auf Botschaften aus ihren surrealen, oft drogeninduzierten Träumen. Es sitzen auch gern mal längst verstorbene Personen auf ihrer Bettkante, wenn sie aufwacht, und haben Wichtiges und/oder Rätselhaftes zu sagen. Claire, nach eigener Auffassung die beste Detektivin der Welt, vergleicht sich mit den Wunderheilern, denen sich verzweifelte Krebspatienten als letztem Versuch zuwenden.

In "Das Ende der Welt" jedoch zieht die Polizei sie zu einem frischen Fall hinzu, der sie bis an ihre äußerste Grenze bringt: Ihr alter Freund Paul ist in seinem Haus umgebracht worden. Claire macht sich an die Arbeit, und durch die Ich-Perspektive sind wir sehr nach dran an dieser sonderbaren Frau. Sie berichtet schnoddrig und distanziert; das Eigentliche steht oft zwischen den Zeilen. Der aktuelle Fall löst bei ihr einen Strom von Erinnerungen aus: Während tagelanger Kokstrips blickt Claire zurück auf einen ihrer ersten Fälle zu Teenagerzeiten, in nüchternen Phasen ermittelt sie, so dass wir ständig zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin und her springen.

Je mehr der Fall sich zuspitzt, desto mehr kommt Claire zu der Überzeugung, dass Paul noch leben würde, wäre sie damals in der Lage gewesen, ihre Bindungsängste zu überwinden und ihm ihre Liebe zu gestehen. In ihrem Selbsthass treibt sie ihren ohnehin bedenklichen Drogenkonsum allmählich in destruktive Höhen. Man verfolgt diesen Prozess der Selbstzerstörung mit wachsender Bangigkeit. Daraus baut sich eine eigene Spannung auf, neben der die Aufklärung der Verbrechen fast nachrangig erscheint - das eigentliche Thema des Buches, mehrfach durchdekliniert, ist denn auch die gar nicht so philosophische Frage nach der Auswirkung der eigenen Handlungen auf das Leben anderer Menschen.

Klar, diese Heldin polarisiert. Aber für mich ist sie eine der psychologisch glaubwürdigsten Romanheldinnen überhaupt. Okay: Sie hat feste Überzeugungen, die sie durch nichts belegen kann. Sie klaut, sie kokst, und ihre Sexualmoral ist auch nicht die beste. Sie glaubt, dass es unmöglich ist, sie zu lieben, weswegen sie sich sinnlose Freundlichkeit spart. Sie definiert sich über ihre Kompetenz und tut haargenau das, was sie für richtig hält. Sie verbirgt erfolglos ihr goldenes Herz. Das Leben hat sie mehrfach verschlungen und wieder ausgekotzt, und sie zeigt ihm den Stinkefinger und macht weiter. Und genau das finde ich toll an Claire.

Wahrscheinlich wird man dieses Buch entweder lieben oder hassen. Ich liebe es!