Faszinierend und bewegend

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scarletta Avatar

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Nein, Aale galten bislang nicht als meine Favoriten in der Tierwelt. Das glitschige, schlangenähnliche Äußere fand ich wenig ansprechend. Mein Wissen über diesen Fisch tendierte gen Null.

Davon, dass man den Aal auch mit ganz anderen Augen sehen konnte, überzeugte mich schon das ansprechende Cover der deutschen Ausgabe.

Der schwedische Kulturjournalist Patrik Svensson hat in seinem Debütroman eine interessante Mischung aus einem Sachbuch und einer literarischen Familiengeschichte um seinen Vater geschrieben. Ich hätte nie geglaubt, dass er mich als Leserin schon auf den ersten Seiten mit der Geschichte des Aals sprichwörtlich gleich gebannt an der Angel hatte.
Zum einen führt Svensson wissenschaftlich korrekt in die Biologie und auch spannend in die Kulturgeschichte des Aals ein.

Seit der Antike galt der Aal als Mysterium: wo und wie pflanzt er sich fort, denn niemand hat ihn (bis auf den heutigen Tag übrigens!) dabei beobachten können. Aristoteles mutmaßte eine Geburt ohne Samen und Eier auf dem Grunde von Seen.

Jahrhunderte später sezierte der 19-jährige Sigmund Freud in Triest hunderte Aale auf der Jagd nach deren Zeugungsorganen. Die geschilderte Szenerie ähnelt fast schon einer Parodie auf Freuds Traumdeutung. Freuds Suche blieb erfolglos, aber vielleicht nicht folgenlos.

Erst im 19. Jahrhundert kristallisierte sich das geheimnisvolle Sargassomeer – ein Gebiet ohne eingrenzende Küsten oder Inseln - als Wiege und Grab des Aals heraus. Hier wurden die kleinsten Larvenstadien gefunden. Bis heute weiß der Aal seinen Ursprung noch immer zu verschleiern.

Durch mehrere Metamorphosen geht der Aal hindurch, bevor er auf seiner langen Reise eine Heimstatt findet. Bei jeder Metamorphose wird der Aal zu einem anderen, die Lebensstadien können sich individuell verlängern oder verkürzen. Wie erlebt er dabei die „Zeitrechnung des Meeres“? Wie kann er bis zu 80 Jahre alt werden?

"Das Rätselhafte, schwer Durchschaubare des Aals wird zum Echo der Fragen, die jeder Mensch in sich trägt: Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin bin ich unterwegs?" (S. 80)

Geschickt gelingt es Svensson, die Geschichte des Aals mit dem Leben seines Vaters zu verweben.

Patrik Svensson begleitete seinen Vater die Kindheit über beim Angeln am Fluss hinter ihrem Haus nahe der schwedischen Aalküste. In diesen Momenten in der Natur kamen sich Vater und Sohn am nahesten.

Während der junge Svensson nie gern Aal gegessen hatte, genoss ihn sein Vater ganz traditionell gebraten oder gekocht, mit Butter und Kartoffeln: „Fettig und gut“. Früher ein Essen der Arbeiterklasse. Der Aal ist auch in die kulturellen Traditionen verschiedener Länder eingegangen.

Svensson lässt die Geschichte des Menschen und die des Aales Hand in Hand fortschreiten. Der Aal leidet und stirbt zunehmend durch die Folgen der Umweltverschmutzung und des Klimawandels. Svensson Vater stirbt an den Folgen seiner beruflichen Tätigkeit als Asphaltarbeiter schon früh an Krebs. Erst spät merkt sein Sohn, dass auch die Herkunft des Vaters mit einem Geheimnis behaftet war.

Mein Fazit:
Faszinierend finde ich an diesem Buch, dass es nicht nur eine spannende Erzählung über den Aal ist, sondern über die Menschen rund um den Aal: von der Bevölkerung, die ihn fischt, verspeist und Traditionen daran knüpft, Philosophen, Meeresbiologen, Literaten und Forscher. Die ganz persönliche Verknüpfung mit dem Schicksal des Vater, der das Aalfischen zelebrierte, bis zur Frage um die Grenze zwischen Leben und Tod machen das Buch zu einem bewegenden Erlebnis.

Svensson schreibt warm und unsentimental, engagiert ohne dogmatisch zu werden. Ein wirklicher Lesegenuss.

Nach dem Lesen bleiben wir als Freunde des mysteriösen Aals zurück, sorgenvoll auf seine Zukunft blickend.