Lieben und lieben lassen

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Er ist verändert, als er zurückkehrt, doch der Krieg hat ihn nicht klein bekommen. Ulysses verliert in den Wirren der Kämpfe nicht nur liebgewonnene Kameraden, sondern lernt auch Evelyn kennen, eine Kunsthistorikerin in den Sechzigern, die ihm eine für ihn völlig neue Perspektive mit auf den Weg gibt. Zurück in London versucht Ulysses, in sein altes Leben zurückzufinden. Seine Ehefrau Peg hat sich während seiner Abwesenheit anderweitig verliebt und hat mit dem amerikanischen Soldaten, mit dem sie in der Zwischenzeit zusammen war, die kleine Alys bekommen. Als Ulysses einen unvorhergesehenen Brief aus Florenz erhält, wird er vor eine große Wahl gestellt – und entscheidet sich für den radikalen Neuanfang in Italien. Auf dieses Lebensabenteuer begleiten ihn nicht nur Alys, die zu so etwas wie einer Ziehtochter für Ulysses geworden ist, sondern auch sein guter Freund Cress inklusive dem Shakespeare-Zitate vor sich hin plappernden Papagei Claude. Ulysses erwarten viele neue Begegnungen – und auch das eine oder andere Aufeinandertreffen mit alten Bekannten...

„Wenn das Licht im richtigen Winkel auf die Piazza Santa Croce fiel, hätte man beinahe glauben können, dass Dante lächelte, als er eine junge Frau namens Evelyn zu einer anderen namens Livia sagen hörte: ‘Von dir lerne ich, und aus dir wachse ich’“ (S. 480)

Während in „Lichte Tage“ die kleine, feine, zutiefst berührende Geschichte zwischen Ellis und Michael beleuchtet wird, so breitet Sarah Winman in „Das Fenster zur Welt“ die ganz große Landkarte aus und schafft einen monumentalen (Wahl-)Familienroman. Eine Vielzahl an Figuren und erzählerischen Wendungen erwartet die Leser*innen – und gleichzeitig gelingt es Winman, stets alle Fäden der Geschichte in den Händen zu behalten.

Es ist zwar in erster Linie die Geschichte von Ulysses, dem Soldaten, der nach dem Weltkrieg ein neues Glück in der italienischen Ferne sucht, aber gleichzeitig sind es die vielen Haupt- und Nebenfiguren, die „Das Fenster zur Welt“ zu einem solchen Lese-, ja, Schmökergenuss machen. Da ist beispielsweise Peg, die sich irgendwie immer an die Falschen hängt, nachdem zuerst Ulysses in den Krieg verschwindet und auch ihr amerikanischer Soldat aus ihrem Leben tritt. Da ist Alys, die sich schon in jungen Jahren klar ist, dass sie nicht nur auch ohne ihre Mutter hervorragend zurechtkommt, sondern dass sie sich mehr für das weibliche Geschlecht interessiert. Da sind Cress und Col, kauzige ältere Herren, die eine solche Lebensfreude ausstrahlen und dennoch ihre Päckchen im Leben zu tragen haben. Und schließlich Evelyn Skinner, die betagte Kunsthistorikerin, deren Leben ebenfalls von stetigen Aufs und Abs geprägt war, von den Unmöglichkeiten und Unwahrscheinlichkeiten der Liebe, die es ihr als lesbische Frau nicht immer einfach gemacht haben. Dieses Netz an Charakteren verflicht Sarah Winman zu einem sehr schlau komponierten, großen Roman, der sich besonders durch das Attribut der Hoffnung auszeichnet. Selbst, wenn alles aussichtslos erscheint, tragen alle Figuren den Funken in sich, der sie nach vorne bringt, der sich nicht traurig und missmutig zurücklässt, sondern der sie anpacken lässt – ein schöner, clever umgesetzter Motor für die Geschichte!

Besonders die Figur der Alys hat es mir angetan, zeichnet sie sich doch durch eine enorme Schläue aus, die gleichzeitig aber zu keinem Zeitpunkt ihren Charakter neunmalklug überzeichnet wirken lässt – ein Mensch, der sich durch das Leben boxt und sich dabei immer auf sich selbst und die Menschen, die sie lieben, verlassen kann. Als Plädoyer für die Vielfalt der Liebe ist „Das Fenster zur Welt“ auch ein perfekter Roman für den aktuellen #pridemonth – eine Empfehlung, die ich hiermit nur zu gerne ausspreche!!