Beeindruckende, auch augenzwinkernde Romanbiografie

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Winnetou, Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi sind Namen literarischer Helden, die selbst heutigen Harry-Potter-Fans noch bekannt sind, selbst wenn sie diese populären Abenteuerromane des ausgehenden 19. Jahrhunderts nie gelesen haben. Doch kaum bekannt ist heutigen Lesern das wechselvolle Leben ihres Erfinders, des sächsischen Schriftstellers Karl May (1842-1912). Dies dürfte sich nun ändern. Mit seinem beeindruckenden Debütroman „Das Flimmern der Wahrheit über der Wüste“, im September bei Kiepenheuer & Witsch erschienen, hat Journalist Philipp Schwenke (40) diesem mit über 200 Millionen Auflage meistgelesenen und in fast 50 Sprachen häufigsten übersetzten deutschsprachigen Schriftsteller mehr als hundert Jahre nach dem Tod ein zeitgemäßes Denkmal gesetzt. Dieser Roman über Mays tragischste Lebensphase zwischen 1899 und 1902 ist eine durchaus kritische, zugleich aber liebe- und humorvolle Betrachtung der aus der Not damaliger Umstände sich ergebenden Wandlung Mays von einem sich selbst überschätzenden, schizophrenen Phantasten zum selbst ernannten Friedensapostel. War schon Mays früheres Leben eine einzige Lüge, so nutzt er auch diese ihm aufgezwungene Läuterung nur zur Wahrung seines eigenen Rufs und Ruhms.
In Schwenkes Roman begleiten wir Karl May um die Jahrhundertwende auf seiner ersten Überseereise in den Orient. Über Jahrzehnte hatte er in seinen Romanen den begeisterten Lesern vorgegaukelt, alle geschilderten Abenteuer auf unzähligen Reisen durch Amerika und den Orient selbst erlebt zu haben. Tatsächlich hatte er nie seine sächsische Heimat verlassen. Seine Leser aber sahen in May den bärenstarken Fährtenleser, Winnetous Blutsbruder Old Shatterhand und den unbesiegbaren Abenteurer Kara Ben Nemsi (Karl, Sohn der Deutschen), der von sich behauptete, 800 Sprachen und Dialekte zu beherrschen. Doch Ende der 1890er Jahre erscheinen in ersten Zeitungsartikeln Zweifel an Mays Glaubwürdigkeit, aus der während Mays Orientreise zu einer bis dahin beispiellosen Kampagne der Sensationspresse ausweitet.
Um sich rechtfertigen zu können, tatsächlich im Orient gewesen zu sein, reist May nun mit dem Reiseführer in der Hand durch die arabische Welt, Sumatra und Ceylon und verschickt an die Zeitungen in Deutschland ständig Postkarten. Doch die reale Welt ist eine ganz andere, von den Kolonialmächten England und Frankreich längst europäisch beeinflusst, als jene abenteuerliche, in seinen Romanen erdachte. Als May auch noch erkennen muss, dass er selbst rein gar nichts mit seinen Figuren Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi gemein hat, er aber sogar bis Sumatra vom Journalisten georg Scharffenstein verfolgt wird, verfällt der Gejagte in Wahnvorstellungen und erleidet einen Nervenzusammenbruch. Durch dieses „Flimmern der Wahrheit über der Wüste“ wird der Phantast geläutert: Im Fieberwahn verlässt Old Shatterhand den Körper des Schriftstellers. Aber: „Was bleibt von ihm, wenn man Old Shatterhand abzieht? Nur noch Karl May, Sträf- und Schreiberling“. Zur Wahrung seines Images gibt sich May nach seiner Rückkehr in Sachsen als Menschenfreund, der niemals seine Leser belügen, sondern sie mit seinen Romanen im Kampf des Guten gegen das Böse nur zu „Edelmenschen“ erziehen wollte.
Der Autor und bekennende May-Fan Philipp Schwenke hat in unzähligen Dokumenten der Karl-May-Gesellschaft, in Fachliteratur, Briefen und Tagebüchern recherchiert. Ihm ist eine authentische, glaubwürdige, trotz allem locker lesbare und augenzwinkernde Biografie gelungen, die „auf Tatsachen und auf alternativen Tatsachen beruht - auf Tatsachen, die auf jeden Fall wahrer sind als alles, was Karl May selbst je behauptet hat.“ So traurig Karl Mays Leben auch geendet haben mag: Mancher ältere Fan wird nach Lektüre von Schwenkes Debüt sicher seine längst vergilbten May-Ausgaben zur Hand nehmen. Denn wie schreibt der Autor in seinem Epilog ganz richtig? „Und wenn wir auf Karls Reise eines gelernt haben, dann doch dieses: wie wenig es lohnt, sich eine herrlich geratene Überzeugung später durch Tatsachen verderben zu lassen.“ Howgh, ich habe gesprochen!