Psychologischer Krimi-Klassiker

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singstar72 Avatar

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Ich möchte diese Rezension etwas breiter aufziehen. Denn das Buch ist Teil einer Reihe, eines Konzeptes. Und als solches sollte es meiner Meinung nach auch bewertet werden.

In England hat man schon seit dem Jahr 2013 begonnen, verschollen geglaubte Klassiker aus dem „Goldenen Zeitalter“ der Kriminalliteratur wieder aufzulegen. Erschienen sind diese Bücher dann in der Reihe „British Library Crime Classics“, herausgegeben und kommentiert von Martin Edwards, einem britischen Autor, Kritiker und Anwalt.

In Deutschland hat der Klett-Cotta Verlag diese erfreuliche Tendenz seit dem Jahr 2017 aufgegriffen. Zuerst erschienen 2017 „Geheimnis in Rot“ von Mavis Doriel Hay (dieses wurde ebenfalls auf „vorablesen“ verlost), danach „Geheimnis in Weiß“ von J. Jefferson Farjeon (leider nicht bei „vorablesen“!). 2018 folgt diesen beiden Bänden nun „Das Geheimnis der Grays“ von Anne Meredith.

Die Cover sind in Deutschland nicht gänzlich übernommen worden. Zwar sind es auch verträumte, leicht stilisierte weihnachtliche Motive, aber doch gegenüber den englischen Ausgaben etwas „weichgezeichnet“. Erstaunlich auch, wie mit dem Herausgeber Martin Edwards umgegangen wird. Bei „Geheimnis in Rot“ fehlt seine Einleitung ganz; bei „Das Geheimnis der Grays“ wird aus dem Vor- ein Nachwort! Da frage ich mich doch, warum. Als Vorwort hätte der deutsche Leser entscheidende Einsichten vorab gewinnen können. Auch die Übersetzung des Nachwortes ist seltsam. Teils wird der Originaltitel übersetzt wiedergegeben („Portät eines Mörders“), teils nicht („Portrait of a Murderer“).

Und der Titel…! Es ist schwierig, meine Kritik hier wiederzugeben, ohne zu spoilern. Also versuche ich es erst gar nicht (ggf möge der Leser dieser Rezension diesen Absatz überspringen). Warum nur hat der deutsche Verlag geglaubt, den Titel ändern zu müssen? Das Nach- bzw. ursprünglich Vorwort sagt es doch ganz deutlich: dies ist eben kein (!) klassischer Krimi, in dem es um die Ermittlung eines Täters geht, kein „whodunit“. Der Täter steht ab Seite 60 fest; danach geht es „nur“ noch darum, die Psyche des Täters zu schildern, und wie genau er gefasst wurde. Es ist eben das „Porträt eines Mörders“. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Das alles hört sich sehr kritisch an. Doch mir war es wichtig, wirklich alle Aspekte zu beleuchten. Das Buch an sich finde ich ziemlich gut! Sicher muss man sich als Leser umgewöhnen. Doch sobald man einmal begriffen hat, dass man es hier nicht mit einem „whodunit“ zu tun hat, kann man das Buch durchaus genießen. Die Schilderung gewinnt unbedingt an Tiefe durch die Tatsache, dass der Mörder teilweise sogar selbst zu Wort kommt. Es sind Auszüge aus seinem Tagebuch vorhanden. Danach geht es im weiteren um die Perspektive der Polizei, und eines Bruders des Täters, der sich entschließt, den noch offenen Fäden in diesem Fall nachzugehen.

Anne Meredith hat einen etwas spröden Erzählstil – hier wäre eventuell die Originalversion zu konsultieren. Jedenfalls schreibt sie nicht blumig, sondern eher drastisch-sachlich. In manchen Abschnitten fühlte ich mich teils an Dickens erinnert (wegen der dramatischen sozialen Unterschiede), teils auch an Dostojewski (wegen der inneren Monologe des Täters, und seiner Selbstrechtfertigung). Erst im allerletzten Abschnitt wird es wieder „ganz Krimi“, als nämlich besagter Bruder die offenen Fäden zusammenfügt und sich entschließt, den Justizirrtum aufzuklären. Das wird sogar richtig spannend!

Insgesamt ist dieser Band eine „runde Sache“. Ich finde es, genau wie die Verlage, ebenfalls wichtig zu zeigen, dass die klassischen Krimis der 20er und 30er Jahre eben nicht nur Landhaus- und Häkelkrimis waren. Es gab auch wohltuende Abweichungen von der Norm. Anne Meredith hat mit diesem Band wichtige erzähltechnische Neuerungen versucht, und hat auch die Psychologie vertieft berücksichtig. Das ist erfrischend zu lesen. Zumal der Band, wie auch die anderen der Reihe, liebevoll in Softcover und Leineneinband mit Lesebändchen gestaltet ist. Von mir eine klare Leseempfehlung!