Rebecca meets Jane Eyre

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Es ist Winter 1918 als die 24jährige Clara Waterfield auf ihr noch nicht sehr langes und doch sehr bewegtes Leben zurückblickt. Geboren mit der Krankheit Osteogenesis imperfecta, auch als Glasknochenkrankheit bekannt, lebt sie in London ein Leben voller Entbehrungen. Ihre Kindheit und Jugend verbringt Clara in einem gepolsterten Zuhause, wobei sie lediglich dank der Erzählungen ihrer Mutter und dank der großen persönlichen Bibliothek eine Verbindung zu der Außenwelt herstellen kann. Erst mit Vollendung ihres achtzehnten Geburtstages ist es ihr erlaubt das Haus zu verlassen. Zu dem Zeitpunkt hat Clara bereits ihre Mutter an eine schwere Krankheit verloren. Als die Halbwaise eines Tages das Angebot erhält, auf einem Anwesen in Gloucestershire ein Palmenhaus einzurichten, zögert sie nicht lange und folgt dem Ruf nach Freiheit und Unabhängigkeit. Eine seltsame und verwirrende Situation trifft sie dort an: Während die Gärten des Landsitzes Shadowbrook üppig sind und nur so vor Leben sprühen, stellt das alte Wohnhaus das genaue Gegenteil davon dar. Es befindet sich in einem desolaten Zustand, die meisten Räume sind verschlossen, der Eigentümer Mr. Fox ist nur selten da und die Haushälterin sowie die Dienstmädchen sind verschreckt und ängstlich – denn in dem Haus soll der Geist einer verlorenen Seele ihr Unwesen treiben. Während die unerschrockene Clara, die nicht an Geister glaubt, dem Ganzen auf den Grund zu gehen versucht, verstrickt sie sich immer mehr in die Geschichte von Shadowbrook, die sie zunehmend mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert.

Zunächst möchte ich auf die große Faszination, die das Buch rein äußerlich auf mich ausgeübt hat, eingehen. Ich könnte mich angesichts des wunderschönen Covers der deutschen Romanausgabe in nicht endenden Lobeshymnen ergehen – das blumenumrankte goldene S ist eine Augenweide, an der man sich nicht sattsehen kann. Auch innen ist das Buch mit seinem edlen Papier, dem festen Einband und Kapitalband äußerst sorgfältig ausgearbeitet.

Auch die inneren Werte des Roman sind nicht zu verachten. „Das Geheimnis von Shadowbrook“ ist ein faszinierender und geheimnisvoller Roman, der den Leser bis zum Ende in Atem hält. Wer Bücher wie „Jane Eyre“ und „Rebecca“ mag, ist mit „Das Geheimnis von Shadowbrook“ bestens beraten. Die Parallelen zu „Jane Eyre“ sind unübersehbar: Eine (Halb)Waise, die sich selbst für unscheinbar und wenig reizvoll hält sowie sich ihrer eigenen charakterlichen Stärke nicht bewusst ist, kommt zur Erfüllung einer mehr oder weniger prosaischen Aufgabe auf ein Anwesen, auf dem merkwürdige Dinge vor sich gehen. Beide Protagonistinnen sind unkonventionell und verfügen über eine starke, leidenschaftliche und überzeugende Erzählerstimme. Sie sind ihrer Zeit im Denken und Handeln weit voraus, wodurch sie einen enormen Eindruck auf ihre Umwelt ausüben. Liebe, Glauben, Verlust und Verantwortung sind in beiden Romanen Themen von zentraler Bedeutung. Beide Romane sind als Bildungsromane mit psychologischen Elementen und Bestandteilen der Schauerliteratur zu verstehen. Wobei diese Bausteine – insbesondere der letzte – ebenfalls eine enge Verbindung zu Daphne du Mauriers „Rebecca“ herstellen. Auch hier haben wir es mit einem Anwesen mit einer geheimnisvollen, beängstigenden Aura zu tun, in dem der Geist einer Verstorbenen stets lebendig zu sein scheint und es zu unheilvollen Ereignissen kommt. Die intertextuellen Bezüge von „Das Geheimnis von Shadowbrook“ zu „Jane Eyre“ und „Rebecca“ sind somit offensichtlich. Trotzdem ist die Geschichte von „Das Geheimnis von Shadowbrook“ eine ganz andere als die von „Jane Eyre“ und „Rebecca“. Kaum glaubt man eine Parallele, einen ähnlichen Erzählstrang entdeckt zu haben, entwickeln sich die Dinge doch ganz anders als erwartet. Denn auch Susan Fletcher beherrscht die Kunst der Verschleierung und stufenweisen Geheimnisenthüllung wie ihre Vorgängerinnen auf hervorragende Weise. Kaum glaubt man als Leser der Wahrheit auf den Grund gekommen zu sein, wird man mit einer neuen Erkenntnis oder überraschenden Wendung konfrontiert, die alles in ein neues Licht rückt. Vielleicht ist Fletchers Protagonistin etwas blasser als Jane Eyre oder Mrs. de Winter und nicht mit einer ganz so großen Affinität zur Identifikation bedacht wie diese, nichtsdestotrotz ist sie eine ungewöhnliche und starke Romanfigur. Ich hätte nicht gedacht, dass ich noch auf ein Buch treffen würde, das eine fast ebenso große Faszination wie „Jane Eyre“ oder „Rebecca“ auf mich ausüben würde!