Wunderschön geheimnisvoll

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dear_fearn Avatar

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Clara Waterfield leidet an der seltenen Glasknochenkrankheit "Osteogenesis imperfecta" - ein schöner Name für ein ungeheuerliches Leiden, bei dem selbst kleine Erschütterungen Knochenbrüche auslösen können. Claras Mutter und ihr Ziehvater polsterten deshalb das Haus, um zu verhindern, dass sie sich stieß. Rausgehen durfte sie nie, stattdessen verbrachte sie die langen Tage mit Lesen und Lernen und entdeckte für sich Anatomie und Geografie. Ihre Mutter erzählte ihr außerdem von ihren Reisen und Erlebnissen, wie es sich anfühlt im Regen zu stehen oder barfuß im frühmorgendlich taunassen Gras. Die Beschreibungen könnten schöner und bildlicher kaum sein.
Als Clara volljährig wird, erlaubt der Arzt ihr Ausgänge, da ihre Knochen inzwischen kräftiger und widerstandsfähiger geworden sind. Die sind allerdings geprägt von Unsicherheit, da ihr Körper durch falsch zusammengewachsene Knochenbrüche entstellt ist und ihr das Wort "Krüppel" überallhin folgt. Ihre Besuche im Tropenhaus eines Botanischen Gartens wecken ihr Interesse an Botanik und bescheren ihr den Auftrag, ein Gewächshaus auf Shadowbrook zu bepflanzen. Angekommen in Shadowbrook begegnet sie einer verängstigten Haushälterin, da es im Haus offenbar spukt. Daran glaubt die tapfere und durch Wissenschaft geprägte Clara nicht - oder doch?

Das Buch besticht bereits in der Optik, denn das Coverdesign und die Veredelung sind wirklich atemberaubend umgesetzt. Anfangs konnte ich mich kaum sattsehen. Wer dieses Buch einmal zur Hand nimmt, wird es nicht wieder weglegen können. Ich habe es in einem Rutsch durchgelesen, am Sonntag, unter einer Decke versteckt.

Die Erzählweise ist gemächlich, fordert zwischendurch immer mal etwas Geduld, ist aber dabei gut strukturiert. Die Sprache ist der Zeit entsprechend, sehr bildhaft und bei Beschreibungen exakt. Susan Fletcher hat meiner Meinung nach ein unglaubliches Erzähltalent. Sie lässt den Leser zu Anfang Claras Gefängnis, Sehnsüchte und Schmerzen spüren, später ihr Aufblühen in der neuen Tätigkeit. Die Beschreibungen von Shadowbrooks Gärten sind unfassbar gut gelungen und die von Claras Beobachtungen in den Spuknächten im Haus sogar noch besser. Ein ums andre Mal habe ich beim Lesen die Decke ein Stück höher gezogen und vor Spannung Gänsehaut im Nacken kribbeln gespürt - stark! Selbst die schnellen Handlungsszenen, die für den Leser oft unübersichtlich werden können, hat Susan Fletcher fabelhaft geschildert. Am Ende des Buches hat man als Leser das Haus und die Gartenanlage so gut vor Augen wie das eigene Heim. Dabei wird es nicht eine Minute langweilig, denn die Geschichte bedient sich sehr vieler Themen, die perfekt zusammenspielen, unter anderem das damalige Frauenbild, den Ausbruch des 1. Weltkrieges, dörfliche Atmosphäre voller Vorurteile und Familienzwist.

"Das Geheimnis von Shadowbrook" ist für mich eins der Lesehighlights 2019. Klare Empfehlung!