Ein Gerücht und seine unabsehbaren Folgen

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kleine hexe Avatar

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Und dabei beginnt alles so harmlos. In einer kleinen idyllischen Stadt am Meer bringen morgens die Mütter ihre Kinder in die Schule, tauschen noch ein paar Worte aus, jede Mutter geht dann ihrer Wege. Ganz normaler Alltag. Wenn da nicht eine der Mütter von einer Kindermörderin erzählen würde, die vielleicht sogar in dieser kleinen idyllischen Stadt leben könnte. Von jetzt an nimmt das tragische Geschehen seinen Lauf. Einmal etwas Gesagtes kann nicht mehr zurückgenommen werden. Joanna bekommt die Mörderin nicht mehr aus dem Kopf, vermutet sogar in allen Frauen, die etwa im Alter der Mörderin sind und deren Anfangsbuchstaben S und M sind, also mit der Sally McGowan übereinstimmen, die Täterin zu identifizieren. Ob es eine Laden- oder Hausbesitzerin ist, Joanna vermutet, stellt Theorien auf, verwirft sie wieder, hadert mit sich selbst, warum sie von diesem Gerücht nicht loskommt. Und sie steckt auch andere damit an. Bis sich der Verdacht erhärtet und Joanna plötzlich selbst bedroht wird und ihr Sohn Alfie auch. Bis das letzte Puzzlestück an seinen Platz fällt und Joanna erkennt, dass sie im Auge des Sturms ist und dass Sally McGowan ihr viel Näher ist, als sie sich jemals hätte träumen lassen. Es kommt zu einem filmreifen Showdown, im Laufe dessen Sally McGowan die Bluttat von vor über 50 Jahren vor unseren Augen wieder auferstehen lässt. Sally war damals selbst ein Kind, 10 Jahre alt, von den Eltern geschlagen und misshandelt, vom Vater noch zusätzlich sexuell missbraucht, war sie ein Kind ohne Kindheit. Der fünfjährige Junge starb mit dem Messer in der Brust, ein Messer das Sally vorher noch in der Hand gehabt hatte. Sally wurde verurteilt lebte lange Zeit in einer besonderen Anstalt für straffällige gewalttätige Kinder, wurde nach langen Jahren entlassen, bekam eine falsche Identität und lebte unentdeckt und fern der Öffentlichkeit, immer bemüht keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Doch die Familie des getöteten Kindes fand keine Ruhe. Immer wieder tauchten Journalisten auf, rissen alte Wunden auf, hielten in der Mutter und in der Schwester des getöteten Kindes den abgrundtiefen Wunsch nach Rache wach. Da sie kein Zeugenschutzprogramm genossen, so wie Sally McGowan, waren sie der Öffentlichkeit preisgegeben, praktisch Freiwild.
Ich kann beide Parteien gut verstehen: sowohl die Mutter und Schwester des kleinen Robbie Harris, die von Rachegedanken zerfressen keine Ruhe finden können, als auch die Erwachsene Sally McGowan, die ihr Leben dafür hergeben würde, den einen schrecklichen Moment ihrer Kindheit ungeschehen zu machen. Ihr Leben ist zerfressen von Selbstvorwürfen und Reue, Gedanken, die sie aber niemandem zeigen kann, weder den liebsten Menschen, die sie umgeben, noch irgendjemand anderem. Nur eine einzige Frau weiß Bescheid, die kann ihr aber auch nur heimlich helfen und sie unterstützen, denn es darf ja niemand von dem schrecklichen Geheimnis erfahren.
Die Sprache ist perfekt an die Handlung angepasst: zuerst heiter, angenehm, so wie das Leben in Flinstead selber, ändert sie sich im Laufe des Romans, wird düsterer, dunkler, voller kataphorischer Textverweise, die zuerst den Gedanken an eine Paranoia Joannas denken lassen, weil sie plötzlich überall Gefahren und Bedrohungen zu erkennen glaubt und dann auf die drohende Gefahr anspielen, in der Joanna und Alfie schweben.
Nach dem Coup de Théâtre löst sich die Handlung auf, alle Fäden werden zu Ende gesponnen, Sally McGowan hat wieder eine neue Identität bekommen und lebt irgendwo an einem anderen Meer in Sicherheit und unerkannt, Joanna, ihr Freund Michael und ihr gemeinsamer Sohn Alfie leben weiter in der kleinen Stadt am Meer, alles ist gut.
Na ja, fast gut. Denn die letzte Szene im buch rüttelt alles wieder auf und lässt die Ereignisse damals, in dem zerfallenden Haus in den sechziger Jahren in ein anderes Licht erscheinen. Und wir, die Leser kommen wieder ins Grübeln.