Geister und Gegenleben

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bobbi Avatar

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Ein chronologisch ungewöhnliches, atmosphärisch dichtes und sehr kunstvoll geschriebenes Mosaik an menschlichen Schicksalen und Sehnsüchten liefert die Kanadierin Emily St. John Mandel in ihrem neuen Roman „Das Glashotel“. Im Hintergrundrauschen der globalen 2008er-Finanzkrise und den dazugehörigen betrügerischen Schneeball-/Ponzi-Systemen spinnt Mandel ein hauchfeines und literarisch hochwertiges Netz aus vielen zusammenlaufenden Lebenswegen, Träumen, Intrigen, Charakteren und Geistern der Vergangenheit.

Die junge traumatisierte Vincent ist Kellnerin in dem Luxus-Hotel Caiette an der nördlichsten Spitze von Vancouver Island, das nur per Boot erreichbar ist – hier verkehren die Reichen, um sich zu erholen und Geld auszugeben. So wie Jonathan Alkaitis, der unglaublich hohe Renditen durch ein betrügerisches Finanzsystem verdient und in seinem Hotel nach neuen möglichen Opfern sucht. Vincent ergreift die Chance nach Reichtum sowie Flucht nach vorne und lässt sich mit Jonathan ein, dessen Auffliegen und Finanzkrisen-Untergang schon am Horizont schimmert. Vincent ist eine sensible, entwurzelte und anpassungsfähige Person – so wie viele Heimat- und Rastlose in dem traumhaft und mystisch anmutenden Roman, der zudem eine Wirtschaftskriminalgeschichte beinhaltet.

Mit einer eindringlichen und scharf geschliffenen Prosa entführt Emily St. John Mandel in eine rätselhafte, verlorene Welt voller Personen, Milieus und Echos, die splitterhaft auftauchen und wieder verschwinden. Eine subtile, krimihafte Spannung und schnelle Zeit- und Ortssprünge erfordern viel Aufmerksamkeit, fesseln aber zusammen mit der klaren, wunderschönen Sprache unheimlich.

„Beginne am Ende“ so fängt der Roman an, als Vincent offenbar ertrinkt, um danach rasant durch Zeiten, Leben, Visionen und andere Grenzen zu jagen, um am Ende alle zart gesponnen Fäden zusammenlaufen zu lassen. Die Organismen des Spätneoliberalismus, eine entwurzelte Generation, aber auch die Verknüpfung von möglichen Gegenleben sowie Paralleluniversen eines Lebens – das alles packt die junge talentierte Autorin gekonnt in einen betörenden und bewegenden Roman, der zwischen Fiktion, Mysterium, Moral und vielen weiteren metaphysischen Ebenen pendelt.