Einzig, nicht artig

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singstar72 Avatar

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Wie manch anderem Leser auch erging es mir mit diesem Buch - ich freute mich einfach auf einen "neuen Arno Geiger". Doch dieses Buch fällt in keine Kategorie, ist weder reine Erzählung, noch Roman, noch Autobiographie, noch Essay. Das Buch ist von allem etwas, und gerade das macht seinen Reiz aus.


Der Verlag bauscht den Inhalt im Klappentext etwas auf - es gehe um Geigers "geheimes Doppelleben", so liest man hier vollmundig. Doch die Wirklichkeit ist etwas banaler. Über Jahrzehnte hat Geiger "Abfalltauchen" in Papiertonnen betrieben - zuerst aus Not, später aus Lust und Neugier. Die Schilderung dieser "alternativen Karriere" bildet das Rückgrat dieses Buches, vermischt mit tiefsinnigen Reflexionen über seine Laufbahn als Schriftsteller, sein Liebesleben, und sein Verhältnis zu den Eltern.

Geiger beschreibt vor allem, wie ihn seine Altpapierfunde, vor allem Tagebücher und Briefe, eine neue Sprache gelehrt hätten. Das merkt man auf jeder Seite, und das erhellt auch seinen Charakter als Schriftsteller. Er hat gelernt, sich einfach auszudrücken, und dennoch zum Kern der Sache zu kommen. Sein Schreiben liest sich bisweilen beiläufig - dann auch wieder nicht. Die Kunst liegt hier im Absichtslosen.

Man kann das Buch als Autobiographie lesen - dennoch warnt der Autor davor. Ich kann ihn gut verstehen. Denn jede Erzählung bedeutet Verfremdung - und jede Einpassung in einen Rahmen, hier das "Containern", ändert den Kontext.

Erstaunt hat mich vor allem seine Offenheit. Beinahe schonungslos ehrlich berichtet er zum Beispiel über sein teils kompliziertes Liebesleben. Hier war er mir ein wenig fremd - doch es ist ja nicht die Aufgabe der Literatur, mir Menschen sympathisch zu machen. Sein Reflexionsniveau ist allerdings enorm.

Sehr berührt haben mich die Passagen über die Krankheiten der Eltern. "Der alte König in seinem Exil", die Erzählung über die Altersdemenz seines Vaters, habe ich gelesen, und dieses Buch erscheint nun in einem noch intensiveren Licht. Erst jetzt verstehe ich die Umstände so richtig - wie der Sohn balancieren musste, um seinem Vater beizustehen, und wie viel Verwirrung dessen Erkrankung in die Familie brachte.

Restlos begeistert haben mich Geigers Reflexionen zur modernen Wegwerfkultur, und wie sich die Einstellungen zum Schriftgut ändern. Hier könnte man sich so manchen Absatz abschreiben!

Kritik würde ich lediglich an den letzten zwei Kapiteln üben wollen. Hier zerfasert das Buch etwas; es wirkt, als fände der Autor keinen rechten Abschluss.

Insgesamt kann ich das Buch jedoch nur empfehlen - wenn man sich von jeglicher Erwartung bezüglich eines bestimmten Genres freimacht, und wenn man offen ist für poetische Gedankengänge, sowie eine eingängig-feinsinnige Sprache.