Eine Familiengeschichte, die tief bewegt

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elke seifried Avatar

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„Bitte mach, dass die Nacht zu Ende geht, dass es wieder Tag wird, mach, dass Mama Haferbrei kocht und wir zusammen über die Cartoons in der Zeitung lachen, bevor ich in die Schule muss.“ Wieder einmal weckt Tom mitten in der Nacht ein dumpfer Schrei, gefolgt von einem lauten Krachen und dem Geräusch von zersplitterndem Holz. Vergeblich versucht er sich mit seinen Spielsachen abzulenken, irgendwann treibt ihn die Angst aber aus dem Bett und er schleicht sich zum Schlafzimmer der Eltern. „Er wünschte sich nichts mehr, als einfach nur in sein Zimmer zurückzukehren, einzuschlafen und diese Nacht hinter sich zu lassen– aber dann öffnete er trotzdem die Tür. Es könnte ja sein, dass Mama ihn brauchte. Schon wieder.“ Und tatsächlich hätte die jemanden gebraucht, denn schon wenig später hat Tom seine Mutter im Arm und es gibt nur noch ein »Meine Mama«, versuchte er es erneut, aber dann hörte er, wie sie stöhnte. Doch aus ihrem Mund kamen keine Worte, sondern Blut. »Wir sterben.«

Als Leser wird mit diesem Schreckensszenario sofort in die Geschichte gezogen und landet dann, da sich der Vater im Anschluss an die Tat in der Küche erschossen hat, mit Tom bei seiner Tante Sonya. „Als Mona sie damals bat, Toms gesetzlicher Vormund zu werden, falls ihr etwas zustieß, war das in Sonyas Augen lediglich etwas gewesen, was jedes vernünftige Elternteil tun würde. Natürlich hatte sie sich einverstanden erklärt, weil sie davon ausgegangen war, dass diese Verpflichtung nichts weiter mit sich bringen würde als zweimal im Jahr Geschenke und einen gelegentlichen Besuch im Zoo.“ Man wird Zeuge davon, dass sie an Tom, der sich seit dem Vorfall in Schweigen hüllt, nicht herankommt, denn „Zwei Wochen vergingen. Zwei Wochen der verschiedensten Schattierungen von Nichts-und-wieder-Nichts, begleitet von nassen, schmuddeligen, widerlichen Schlürfgeräuschen. Sonya sah zu, wie Tom an seinen Fingern kaute, auf seinen Nägeln herumbiss und an seinem Daumen lutschte. Die Pflaster verschwanden schneller, als sie es schaffte, sie ihm auf die Finger zu kleben, und alle Bestechungsversuche fruchteten genauso wenig wie Bitten oder Drohungen.“. Sonya, unfreiwillig kinderlos geblieben, zermürbt es der Mutterrolle scheinbar so wenig gerecht werden zu können, und deshalb gilt wenig später, »Aber ich weiß einfach nicht weiter. Ich brauche eine Pause, und ich glaube, du auch.« Und so kam es, dass Tom erneut umzog. Dieses Mal ging es in Onkel Alex’ muffigem Auto in die Innenstadt, zu Tante Rose.“ Wird es bei der alleinerziehenden Mutter, deren pubertierenden Teenager und Onkel Will, dem Weltenbummler, besser laufen? Das wird auf gar keinen Fall verraten. Vielleicht noch so viel, es gilt nicht nur die Trauer und jede Menge Selbstvorwürfe zu verarbeiten, sondern auch zu der Erkenntnis zu gelangen, „Wenn Tom eine Chance haben sollte, wenn sie alle eine Chance haben wollten, dann mussten sie lernen, dass eine Familie aus mehr bestand als nur aus Trauer und Verrat.“

Der einnehmende Schreibstil der Autorin hat mich von Anfang an gefangen genommen und ans Buch gefesselt. Sie beschreibt äußerst emotional und ich konnte mir bei Beschreibungen wie „Jedes Mal, wenn Tom hustete, grub sich der Schmerz noch tiefer in seine Brust, wie ein Bergarbeiter, der nach Gold schürft. Tränen stiegen ihm in die Augen, sein Blick verschleierte sich, sein Körper wurde taub und sein Kopf drehte sich in immer enger werdenden Kreisen.“, die Trauer fast schon zu gut vorstellen. Auch Worte wie, „Toms Kiefer schmerzte vor Einsamkeit. Er würde seine Mutter nie wiedersehen. Er würde sich nie wieder in ihre Arme schmiegen, nie wieder ihren Geschichten lauschen, sich nie wieder geliebt fühlen. Aber das hatte er auch nicht anders verdient, weil er so ein Feigling gewesen war, weil er mit seinen dämlichen Transformern gespielt hatte, weil er sich verkrochen hatte, genau in dem Moment, als Mama ihn am meisten gebraucht hatte.“, haben mich mitten ins Herz getroffen. Der Autorin gelingt es ganz hervorragend die Kämpfe aller Beteiligten, die sie mit sich selbst austragen, erlebbar zu machen, bei Schuldgefühlen wie „Ein Beweis dafür, dass sie versagt hatte. Denn sie hatte es zugelassen, dass sich ihre Schwester immer weiter entfernte, hatte die Ausreden akzeptiert, als Mona sich weigerte, mit ihr zu reden, und es versäumt, sie wegen der blauen Flecken und häufigen Tränen zur Rede zu stellen. Und jetzt war Mona tot.“, angefangen bis hin zu Erkenntnissen wie, „Aber Rose spürte nichts als Groll und ein kindisches Konkurrenzgefühl, das sie einfach nicht hinter sich lassen konnte.“ Die Entwicklung, die in der Familie durch den Tod von Toms Eltern und sein Schweigen angestoßen wird, ist absolut authentisch geschildert und ich konnte mich mehr als gut in alle hineinversetzten.

Die Mitspieler sind authentisch, lebendig und mit einer gehörigen Portion Raffinesse gezeichnet. Alle haben ihre Stärken und Schwächen, die von Wiebke von Carolsfeld gelungen in Szene gesetzt werden. Sonya ist die perfektionistische unter den Geschwistern, die nach dem Tod der Mutter schon früh Verantwortung für die jüngeren übernehmen musste. Sie hat mir besonders leid getan, weil sie fast daran zerbricht, dass sie und Alex bislang kein Kind bekommen haben, sie dann so gar nicht an Tom herankommt und ihr Mann sie dabei mies im Stich lässt. Rose ist die auf den ersten Blick flippige, mit dem kessen Spruch auf der Lippe. Ich mochte sie sehr gerne, auch wenn vielleicht nicht alles toll ist, was sie tut. Stets im Schatten der großen Schwester hat auch sie ein gehöriges Päckchen zu tragen, obwohl das vielleicht nicht so offensichtlich ist, wie bei Sonya. Will, der erst einmal die Flucht ergreift, sich gerne vor Verantwortung drückt und ein Tagträumer zu sein scheint, hat hinter seiner Fassade sehr viel mehr zu bieten, entwickelt vielleicht auch dahinter ein Mehr. Mit Tom habe ich natürlich gelitten und stets so auf einen Satz wie „Und das Erstaunlichste: Auf Toms Gesicht lag ein Lächeln.“, der lange auf sich warten lässt, gehofft. Auch die kleineren Nebenrollen, wie Roses Sohn oder der Mitarbeiter vom Jugendamt sind gut getroffen.

Lobend erwähnen möchte ich auch noch, dass ich beim Lesen stets die Botschaft, nicht zu schweigen und nicht einfach nur zuzusehen verspürt habe. Sei es wenn es um Müllsünder geht, denn, „ »Es gibt nur diesen einen Planeten, den wir uns alle teilen müssen, und es ist unsere Pflicht, dafür zu sorgen, dass er auch überlebt.« oder auch wenn es um Misshandlungen geht, schafft die Autorin dies ganz ohne erhobenen Zeigefinger entweder auf amüsante Art und Weise oder auch zwischen den Zeilen.

„Familien, stand in Monas krakeliger Schrift darauf, sind wie Nougat– vorwiegend süß mit ein paar tauben Nüssen.“ Alles in allem ein bewegender, fesselnder und unter die Haut gehender Familienroman, der tiefe Einblicke in verletzte Seelen gibt.