The Green Mile für Picoult-Fans

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June Nealon ist eine glückliche Frau. Nach dem Tod ihres ersten Mannes hat sie noch einmal die große Liebe gefunden, die nicht nur ihr selbst ein wunderbarer Ehemann, sondern auch ihrer Tochter Elisabeth ein treu sorgender Vater ist. Nun ist sie zum zweiten Mal schwanger - und genau das ist auch der Zeitpunkt, zu dem Shay Bourne in das Leben der kleinen Familie tritt. Ein junger, arbeitsloser Handwerker, den June bereitwillig in ihr Haus aufnimmt. Doch eines Tages kommt sie von einem Arzttermin nachhause zurück und findet eine Katatstrophe vor. Ihr Mann und ihre kleine Tochter sind tot, erschossen von Shay, dem man zu allem Überfluss noch Mißbrauch an der kleinen Elisabeth vorwirft. Shay Bourne wird daraufhin zum Tode verturteilt.

Elf Jahre später. Die kleine Claire Nealon ist inzwischen elf Jahre alt - und sie leidet an einer Herzerkrankung. Sie benötigt dringend ein Spenderherz und wer ist der einzige in Frage kommende Spender? Richtig: Shay Bourne, der noch immer in der Todeszelle sitzt. Das Problem ist nur, dass Shay eigentlich durch die Giftspritze sterben soll, die seine Organe nach der Hinrichtung für eine Transplantation unbrauchbar macht. Und so kämpft der Außenseiter vor Gericht um das Recht, durch den Strang hingerichtet zu werden. An seiner Seite die mollige Anwältin Maggie und der Seelsorger Father Michael, der vor elf Jahren Geschworener im Fall Shay Bourne war. So weit die Geschichte und bis dahin klingt sie auch noch nach der Jodi Picoult, die wir aus Romanen wie "Beim Leben meiner Schwester" kennen.

Doch nun wird das Ganze abstrus. In dem Gefängnis, in dem Shay einsitzt, geschehen auf einmal Wunder: Tote erwachen wieder zum Leben, aus den Wasserleitungen sprudelt Wein und ein einziges, winziges Stück Kaugummi reicht aus, um alle Häftlinge im Block zu versorgen. Mittendrin Shay, der mal wirr vor sich hin plappert, mal religiöse Weisheiten von sich gibt. Schließlich ist man sich sicher: Shay Bourne ist der neue Messias! Menschen pilgern vor das Gefängnis und wollen sich von ihm heilen oder segnen lassen. Hinweise gibt es ja viele: Shay ist 33 Jahre alt, Handwerker und vor seiner bevorstehenden Hinrichtung von allen verlassen. Father Michael findet heraus, dass die religiösen Sprüche tatsächlich aus den gnostischen Evangelien stammen, die Shay nie im Leben gelesen haben kann. Und natürlich der überaus kreative Name Isaiah Matthew Bourne ( I. M. Bourne oder auch I am born), der Father Michael in eine tiefe Glaubenskrise stürzt.

Laut Klappentext verspricht der neue Roman von Jodi Picoult "die Tiefen einer Mutter-Tochter-Beziehung" auszuloten. Davon kann aber mitnichten die Rede sein und man fragt sich, ob der Rezensent der Publishers Weekly wirklich denselben Roman in der Hand hatte. June und Clare Nealon haben sicherlich eine schwierige Beziehung, aber in der Darstellung ist keine Tiefe zu erkennen. Eine übervorsichtige Mutter, die Claire immerzu mit ihrer verstorbenen Tochter Elisabeth vergleicht und sogar verwechselt - und eine zickige, herzkranke Tochter, die nach Jahren des Kämpfens einfach nur sterben und nicht mit dem Herzen eines Mörders weiterleben will. Die beiden haben sich durch die Krankheit weit voneinander entfernt. Die Mutter-Tochter-Beziehung ist tatsächlich nur ein Strang von vielen, wie der von Lucius, dem aidskranken Häftling, von Father Michael, der sich wegen seines "Ja" zur Todesstrafe vor elf Jahren schuldig fühlt und der von der Anwältin Maggie, die sich zu dick fühlt und mit einem Kaninchen namens Oliver zusammenhaust.

Im Laufe der Geschichte erfährt der Leser noch viele Einzelheiten, über Shays Vergangenheit zum Beispiel und einige Verwirrungen lösen sich auf. Andere wiederum bleiben auch nach dem allzu vorhersehbaren Schluss bestehen und vor allem das letzte Kapitel ist an Lächerlichkeit kaum zu übertreffen. Dennoch haben am Ende alle, was sie sich wünschen: Claire Nealon ihr Herz und damit June Nealon ihre Tochter. Father Michael hat seinen religiösen Frieden und Maggie ihren Traumprinzen. Und Shay Bourne? Der durfte immerhin vollkommen selbstlos (wie unrealistisch!) sein Herz spenden und dafür in den Tod gehen, obwohl er in einem gewissen Sinn nicht mal ein Mörder ist. Wenn Jodi Picoult also mit dieser phantasielosen, von Stephen Kings "The Green Mile" abgekupferten Geschichte erreichen wollte, dass man über die Todesstrafe nachdenkt, dann hat sie das wohl erreicht. Mehr Erfolg kann ich ihr allerdings nicht zusprechen.