Sekundenfreundschaft

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buchwoerter Avatar

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"Wer nicht stolpere, gehe falsch, im Gebirge allemal." - Was für eine tolle Geschichte!

Matthias Politycki hat in seinem Roman "Das kann uns keiner nehmen" einen interessanten Reisebericht gepaart mit Gesellschaftskritik und zweierlei Lebensgeschichten. Ich bin wirklich überrascht worden von der Intensität des Buches.

Der Kilimandscharo-Gipfel ist einer der Wanderrouten für Menschen, die ihre Grenzen suchen. So treffen sich relativ unfreiwillig der Schriftsteller Hans und der sehr eigenwillige Bayer Tscharli auf dem Gipfel. Zwangsläufig verbringen sie viel Zeit miteinander. Hans wirkt geerdet und man kann sich sehr gut mit seinen Gedanken identifizieren. Man kann sehr gut nachvollziehen, dass er den urigen, grantigen und auf niedrigstem Niveau witzelnden Tscharli nicht sonderlich sympathisch findet. Und ja, man wird seine Ansicht überdenken. Mir hat es gefallen, dass man den Tscharli tief in einer Schublade verortet hat. Darüber bin ich sehr ins grübeln geraten, denn die Gedanken über Tscharli konnte ich absolut teilen. Vorschnell verurteilt, ich, in einem Buch. Das hat wirklich gesessen. Mir hat es gefallen, mehr über Tscharli zu erfahren, Dinge zu verstehen und wie sein Humor funktioniert. Die Lebensweisheiten Tscharlis waren herrlich anders und erfrischend. Hans schafft es hinter die Fassade von Tscharli zu sehen und da bemerkt man erst, was für ein Pfundskerl er in Wirklichkeit ist. In Deutschland hätten sich mit Sicherheit ihrer beiderlei Wege nach der kurzen Sekundenfreundschaft wieder voneinander getrennt. Hier in Afrika nicht: sie halten aus, sie lernen sich kennen und respektieren.

Politycki schafft es immer wieder Aha-Momente zu kreieren bzw. durch seinen grandiosen Schreibstil zum Nachdenken anzuregen. Vor allem das Wort "Sekundenfreundschaft" hängt bei mir noch nach. Viele tolle Zitate habe ich mir in dem Roman markiert, vor allem solche, die über das stolpern und weiterlaufen berichten.
Die Beschreibungen des Landes Tansania, der Menschen und von Situationen sind beeindrucken und widerlegen zahlreiche Vorurteile. Die Reise der beiden Protagonisten durch das Land sind spannend und sehr aufschlussreich (Sansibar, Daressalam, Kilimandscharo). Die Karten die im Einband abgebildet sind, lassen die Reise gut nachvollziehen.
Die Begegnungen mit den Einheimischen werden durch den Charakter Tscharlis und seinen urbayrisch/englischen Sprüchen aufgewertet. Doch wer nun denkt, dass die Geschichte oberflächlich ist, hat weit gefehlt. Sowohl Hansi als auch Tscharli tragen "Altlasten" mit sich rum, denen sie sich stellen. Ihr Kommunikation und ihre eigenwillige Beziehung zueinander lassen Vorurteile aufbrechen und regen wirklich zum nachdenken an. Zudem bemerkt man, dass der Autor selbst autobiographische Erlebnisse in den Roman eingearbeitet hat.

Für mich ein absolutes Lesehighlight!