Aus einer fremden Welt

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martinabade Avatar

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In der Kanzlei des Anwalts Akira Kido erscheint Rie und bittet ihn um Nachforschungen. Vor nicht allzu langer Zeit ist ihr zweiter Ehemann Daisuke bei einem Unfall verstorben. Im Rahmen der üblichen Formalitäten nach einem Todesfall hat sie festgestellt, dass es Daisuke nicht gibt, nicht gegeben hat. Alle Angaben, die sie über ihn finden kann, sind gefälscht. Kido übernimmt das Mandat und betätigt sich im Folgenden erst einmal als Detektiv. Er entdeckt ein offenbar nicht so unübliches Modell des Identitätstausches. Als europäische Leserin, die auch während der Lektüre Realitätschecks macht, habe ich eine Weile gebraucht um zu begreifen, dass es in Japan Familienregister und Melderegister und –bescheinungen unabhängig voneinander gibt.

Die Suche nach dem richtigen oder falschen Daisuke ist die Handlung, die sich an der Oberfläche des Buches durchzieht. Sie erscheint im Laufe der Geschichte aber mehr und mehr als eine Basis, die der Autor nutzt, um viele Variationen zum Thema „Identität“ durchzuführen, kunstvoll wie sich in der Musik Variationen ein Thema erst zum Sprechen und Leuchten bringen.

Wer sich in der japanischen Gesellschaft nicht auskennt, lernt in diesem Buch viel. Gesellschaftliche Zwänge sind ein großes Thema in der japanischen Gesellschaft und Literatur. Es gibt in Japan natürlich das Phänomen „Hikikomori“, bei dem junge Menschen sich in ihren Wohnungen einschließen. Auch prekäre Bedingungen am Arbeitsplatz werden viel thematisiert. Kido denkt zum Beispiel viel über seine Rolle als Ehemann und Vater, als Sohn und Schwiegersohn nach und kommt zu dem Schluss, dass seine Ehe eigentlich nur noch eine Fassade ist. Seine Ehefrau spricht nicht darüber, welcher Druck auf ihr lastet, weil sie heiraten und Kinder bekommen sollte, gleichzeitig aber arbeiten und gut funktionieren soll – das kennen wir in Deutschland nur zu gut.

Gleichzeitig experimentiert Kido selbst mit dem Identitätstausch. Er versucht, in die Gedankenwelt einer Person einzudringen, die in einer falschen Identität lebt und somit keine Familie, keine Geschichte, keine authentische Vergangenheit hat. Und macht auch einen kleinen Schritt in die Realität.

Das Buch verlangt viel vom Leser. Wie die Menschen in asiatischen Ländern sehr selten ihre echten Gefühle und Meinungen Fremden gegenüber äußern, liest sich der vorliegende Text größtenteils wie durch eine Membran, seltsam distanziert. Manchmal gleicht der Erzählstil einem Sachbericht, selten gibt es wörtliche Rede. Über lange Passagen verzichtet der Autor über Adjektive, die Gefühlslagen beschreiben. Stattdessen gibt es oft lange Erörterungen, zum Beispiel, wenn Kido mit seinem Kanzleikollegen seine eigene koreanische Herkunft oder die Rechtmäßigkeit der Todesstrafe erörtert. Da wird der Text dann manches Mal recht akademisch.

So wie die Suche nach Daisuke den roten Faden der Handlung bildet, so zieht sich eine schwer greifbare melancholische Atmosphäre auf der Gefühlsebene durch die Leben der handelnden Personen. Viele können aufgrund der strengen Konventionen oder materieller Umstände nicht das Leben leben, das sie sich wünschen. Doch trotz vieler schmerzhafter Erinnerungen versuchen sie auf verschiedenen Wegen, das Leben zu meistern.

P.S.: Ab ca. Seite 160 werden die Schlagzahl der japanischen Namen, die Nachvollziehbarkeit der Identitätstäusche und die Hinweise auf japanische Mystizismen sehr anstrengend für die deutsche Leserschaft.
P.P.S.: Und in diesem Zuge: Ein großes Kompliment an die Übersetzerin.