Kann man seine Identität ablegen wie ein Kleidungsstück?

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Kido Akira vertrat vor einigen Jahren als Scheidungsanwalt die junge Rie, deren Ehe durch die plötzliche unheilbare Krankheit ihres jüngsten Sohns zerbrochen war. Rie wendet sich wieder an Kido, nachdem ihr zweiter Mann durch einen Arbeitsunfall stirbt und sein Bruder konsterniert feststellt, dass der Mann ein Fremder war, der sich hier Taniguchi Daisuke nannte. Kido fühlt sich Rie nicht nur aufgrund ihres tragischen Schicksals besonders verpflichtet und weil der verunglückte "Mister X" so alt war wie Kido selbst, sondern auch, weil sie dringend seine Hilfe als Anwalt benötigt. Ihr verstorbener Mann kann nicht begraben werden, solange man nicht weiß, wer er war. Wenn Rie die Ehe annullieren lassen würde, wäre die kleine Hana ein uneheliches Kind – mit unerwarteten Folgen. Schlimmer noch, der ältere Bruder Yūto dürfte nicht mehr den Namen seines sozialen Vaters tragen, der sich liebevoll um den Jungen gekümmert hatte.

Zum Ärger seiner Ehefrau vergräbt sich Kido tiefer in den ungewöhnlichen Fall einer falschen Identität, als es sein Anwaltsmandat erfordern würde. Kido gehört zur dritten Generation koreanischer Einwanderer in Japan. Als Oberschüler hatte er die japanische Staatsbürgerschaft beantragt und einen japanischen Namen angenommen; seine koreanischen Vorfahren waren für ihn bisher kein Thema. Die Eltern sprachen nicht darüber, und anlässlich Kidos standesgemäßer Heirat wurde schamhaft unter den Teppich gekehrt, dass seine Großmutter nach koreanischen Traditionen lebt. Schließlich sollte Kido dankbar dafür sein, dass sein Schwiegervater ihn als „fast richtigen Japaner“ lobte. Erst kürzlich war sich Kido bewusst geworden, dass rassistische Einstellungen in Japan rasant zunehmen und ihn in eine Schublade stecken, in der er sich niemals gesehen hatte. Die Vorstellung, dass jemand seine Identität wie ein Kleidungsstück ablegen und an einem entfernten Ort ein neues Glück finden könnte, elektrisiert Kido. Seine Ehe, seine Rolle als Vater, sein Berufs-Ethos, alles was Kido bisher ausmachte, steht für ihn nun plötzlich auf dem Prüfstand.

Die Rolle des Taniguchi Daisuke, der auf der Insel Kyūshū dieses Glück erlebte, und die Kido aufgedrängte Identität als unerwünschter Einwanderer fügen sich zusammen wie Negativ und Positiv eines Fotos. Kido recherchiert geduldig, wo der Mann geblieben sein kann, dessen Identität Mister X benutzte. Dabei wird er mit einer erstarrten Gesellschaft konfrontiert, die ihre Werte nur durch Ausgrenzung von Individuen erhalten kann. Archaische Rollenbilder machen Männer wie Frauen unglücklich. Das Erdbeben und der Tsunami von 2011 haben das Land tief verunsichert und gerade in Familien wie den Kidos Abstiegsängste geweckt. Das männliche Ego scheint durch den Umbruch besonders verletzlich zu sein.

Keiichirō Hirano gibt seiner spannenden Spurensuche den Rahmen, er als Autor hätte Kido-san in einer Bar kennengelernt und so von seinem ungewöhnlichen Fall erfahren. Sachlich und empathisch zugleich verknüpft er Schicksale, die kaum einen Leser unberührt lassen werden. Kidos Spurensuche findet statt vor der Folie einer alternden Gesellschaft, in der Einwanderung auf breiten Wiederstand trifft, Arbeitnehmer sich aus Überforderung das Leben nehmen – und wo noch immer die Todesstrafe vollstreckt wird. Wie im Krimi habe ich in „Das Leben eines Anderen“ zunächst an meiner Wahrnehmung gezweifelt und mich gefragt, wohin der reale Taniguchi Daisuke verschwunden sein könnte.

Lesern von Keigo Higashino oder Kanae Minato empfohlen.