Nicht gefällig, aber gehaltvoll

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern
singstar72 Avatar

Von

Ich muss zugeben, hätte ich nicht schon ein wenig Erfahrung mit japanischer Literatur gehabt, hätte ich mich möglicherweise etwas schwer getan mit diesem Buch. So aber war ich vorbereitet. Hier spielt sich sehr viel unterhalb der Oberfläche ab, und der Tonfall ist manchmal täuschend sachlich. Auch mäandert die Geschichte mehrfach um ihre zentralen Themen herum. Ich habe daher länger für die Lektüre gebraucht, als bei einem reinen Unterhaltungsroman. Habe aber auch sehr viel mitgenommen.

Es ist einer dieser Fälle, wo jeglicher Versuch eines Klappentextes eigentlich nur scheitern kann, weil es im Grunde um viel mehr geht. Der Anwalt Akira Kido wird von einer ehemaligen Mandantin, die er bei ihrer Scheidung vertreten hat, mit einem neuen Auftrag betreut - er soll die wahre Identität ihres verstorbenen zweiten Mannes klären. Er verbeißt sich geradezu in diesen Fall - wohl auch, weil er privat gerade von Sinnfragen umgetrieben wird. Er trifft sich nach und nach mit vielen Zeugen - ist dabei aber auch auf einer Reise in sein Inneres. Und es tauchen, auch vom Autor wohl bewusst gesteuert, viele Themen am Wegesrand auf, für die man sich als Leser Zeit nehmen sollte.

Es geht um sehr vieles hier, was nur angerissen wird, aber gerade deshalb nachhallt. Um die Frage der Kindererziehung zum Beispiel, oder um das Verhältnis zwischen Eheleuten. Wie kommen Menschen nach Schicksalsschlägen mit ihrer Identität und ihrer Vergangenheit zurecht? Wie erklärt man Kindern den Tod? Wie wird man von anderen wahrgenommen? Und was macht eigentlich einen Charakter aus?

Viele Passagen weichen vom Hauptweg der Erzählung ab. Man muss also schon ein wenig Geduld mitbringen. Durchsetzt ist der Text außerdem von etlichen Dialogen, die auf uns Westeuropäer befremdlich wirken mögen. Da ich mich aber schon näher mit Japan beschäftigt habe, fand ich alles ziemlich realistisch. Auch die kulturellen Einblicke fand ich unmittelbar. Das "heimliche Hauptthema" des Romans ist nämlich die Haltung der Japaner zu den Koreanern, da der Anwalt selbst eingebürgerter Koreaner, ein "Zainichi", ist. Ja, diese Seiten, den Fremdenhass und die Vorurteile, die gibt es auch in Japan - das wird aber gerne unter den Tisch gekehrt.

Vieles fand ich sehr gut an diesem Buch. Einmal die aktive Lesehaltung, die es einem abverlangt. Dann die farbigen Figuren, die mit ihren Eigenheiten kurz und prägnant beschrieben werden. Die inneren Monologe von Kido mochte ich auch - sie gehen bisweilen stark ins Philosophische. Dann wieder die zahlreichen Bezüge zu Jazzmusik, Populärkultur und Literatur. Und nicht zuletzt die angedeutete Rahmenhandlung. In einem Vorwort behauptet der Autor nämlich, er habe die Geschichte selber nur gehört. Das fand ich einen klugen Kunstgriff!

Insgesamt würde ich das Buch an Liebhaber japanischer Literatur weiterempfehlen. An alle anderen interessierten Leser nur unter Vorbehalt.