Sein und Schein

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herr_stiller Avatar

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„Er spielte nicht bewusst etwas vor, vielmehr hatte er das Gefühl, als würde er, je länger er sprach, mit dem, was er sagte, verschmelzen.“

Ein Mann ist gestorben. Ehemann, Vater, Bruder, Sohn. Doch nur die Hälfte davon ist wahr. Als seine Witwe ein Jahr nach dem Unfalltod die Familie des Verstorbenen kontaktiert, wird schnell klar, dass er nicht Taniguchi Daisuke war. Aber wer war er? Und wie kam er an Taniguchis Identität?

Keiichiro Hiranos Roman „Das Leben eines Anderen“ lebt von seiner Authentizität. Identitätstausch ist hier keine Science-Fiction, kein Face/Off mit John Travolta und Nicolas Cage, sondern ein reales System, bei dem die in Japan gängigen Familienregister und Lebensgeschichten getauscht werden. Ein System, dem Anwalt Akira Kido auf die Spur kommt, als er von Rie, der Witwe des nun namenlosen Gatten, beauftragt wird, die Herkunft ihres Mannes aufzudecken.

Der Klappentext führt dabei ein kleines bisschen in die Irre. Dass Kido selbst in die Rolle Taniguchis schlüpft, dessen Lebensgeschichte übernimmt, „um seinem eigenen Schicksal zu entgehen“, ist etwas hochgegriffen. Im Prolog, der streng genommen eher ein vorgegriffener Epilog ist, was im letzten Kapitel mit Kido deutlich wird, sowie auf einer Geschäftsreise in einer Bar, wechselt Kido seine Identität, gibt sich für jemanden aus, der er nicht ist. Dabei spielt seine scheiternde Ehe und der Alltagsrassismus, dem er als Zainichi – als koreanischstämmiger Japaner – ausgesetzt ist, eine Rolle. Aber er möchte auch mehr herausfinden über die Person, die mit seiner Klientin verheiratet war, und seine Beweggründe, die Identität eines Fremden anzunehmen.

„Das Leben eines Anderen“ ist ein Buch der behutsamen Zwischentöne. Hirano zeichnet wundervolle Figuren, die den Leser:innen mit einer häufig leisen, bewegenden (Vor-)Geschichte begegnen. Der Pfad zur wahren Identität des Verstorbenen ist ein gewundener, der ganz langsam beschritten wird, was dem Roman – neben Einblicken in die japanische Gesellschaft, ihre Bürokratie und den auch hier vorhandenen täglichen Rassismus – eine besondere Tiefe gibt und Hirano zu einem der spannendsten modernen Literaten Japans.