4,5 Sterne für ein Familiengeheimnis um Schuld und Vergebung

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elke seifried Avatar

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»Sie hat begonnen«, stieß Inès hervor. »Die Invasion, Michel. Die Deutschen kommen!« heißt es auf dem Weingut Chauveau in der Nähe von Reims als im Frühjahr 1940 die Deutschen die Maginot-Linie überschreiten und nun auch Frankreich mitten im Kriegsgeschehen steckt. Viele Jahre später, im Juni 2019, hat Liv gerade ihre Scheidung hinter sich gebracht und würde sich am liebsten nur verkriechen, als es klingelt und ihre „neunundneunzig Jahre alte, unglaublich rüstige Großmutter, die weißen Haare zu einem tadellosen Knoten gebunden, das graue Chanel-Tweedjackett perfekt geschneidert, die schwarze Hose einwandfrei im Sitz“ vor der Tür steht um sie abzuholen und schon wenig später sitzen die beiden im Flieger nach Paris.

Und auf diesen zwei Zeitebenen darf man als Leser nun einmal Liv und ihre Großmutter nach Paris bzw. Reims begleiten, dort auf den attraktiven Anwalt Julien stoßen, sich mit Liv ein wenig in diesen verschauen und auch ein Weingut in der Nähe besuchen, was Grandma Edith völlig außer Gefecht setzt. Während man die beiden begleitet darf man zunehmend mehr rätseln, welches Geheimnis Edith ihrer Enkelin eigentlich offenbaren will und warum sie dieses nicht über die Lippen bringt. Zeitgleich erfährt man in der Vergangenheit von Ines, ihrer Ehe mit Michael, ihrem unglücklichen Leben auf dem Weingut, ihrer besten Freundin Edith und auch vom Keltermeister und dessen Frau Celine, die so viel besser zu Michael zu passen scheint. Während Ines unbedarft ihrem Liebeskummer frönt, beginnen die Menschen um sie herum Widerstand zu leisten und irgendwann muss Ines sich entscheiden, wo soll ihre Position sein?

Der empathische Schreibstil der Autorin liest sich super flüssig. Sie beschreibt äußerst anschaulich, sodass ich mich stets wie vor Ort fühlen konnte. Die Schilderung auf zwei Zeitebenen hat mir ebenso gut gefallen, wie die aus unterschiedlichen Perspektiven. Kann man sich doch so noch besser mit Liv in Julien verlieben, sich Sorgen um die Großmutter machen oder rätseln, was diese verbirgt, und auch besser nachvollziehen und erfühlen, warum eine Ines unglücklich ist, warum sie Fehler begeht oder auch was in einer Celine vor sich geht. „Und würdest du bitte aufhören, an deinem Croissant herumzuzupfen? Also wirklich, Olivia, hat deine Mutter dich in einem Stall großgezogen?« Liv verdrehte die Augen“, kann es im Heute schon mal heißen und so darf man hier immer wieder schmunzeln, was ja nie verkehrt ist und das Lesen zur kurzweiligen Unterhaltung macht, was mir besonders in der ersten Hälfte über die eine oder andere Länge geholfen hat, denn da plätschert die Geschichte für mein Empfinden ein wenig dahin. Allerdings konnte mich die Autorin dann durch erste kleine Hinweise, z.B. was mit einer Ines geschehen sein soll, so richtig in die Handlung ziehen und ich habe die Seiten zunehmend gefesselt fast schon verschlungen. Lobend möchte in dem Zusammenhang auch erwähnen, dass dann am Ende doch nicht alles so ist, wie es auf den ersten Blick scheint, sich noch das eine oder andere unerwartete Geheimnis und auch einige berührende Szenen auftun. „Damals war es ihr als großer Luxus erschienen, denn viele Frauen griffen inzwischen auf Rote Bete zurück, um ihre Lippen zu färben.“, gerne hätte ich noch von mehr solchen kleinen interessanten Details gelesen und auch von den Aktivitäten der Resistance hätte es wegen mir ein klein wenig mehr sein dürfen. Nichtsdestotrotz habe ich einiges über die Rolle der Champagnerhäuser der Region und ihren Beitrag dazu erfahren, wie z.B. dass Graf Robert-Jean de Vogüé, der während des Kriegs Geschäftsführer des geschichtsträchtigen Champagnerhauses Moët & Chandon war, auch der Anführer der Résistancebewegung in dieser Gegend Frankreichs war. »Die einzige Möglichkeit, uns zu schützen, ist, nichts zu tun!« »Nichts zu tun, ist etwas für Feiglinge!«, rief sie. »Nein!« Théos Gesicht lief rot an, und er sprang auf und schlug mit den Händen auf den Tisch. »Sich zu fühlen, als könnte man etwas ändern, ist etwas für Dummköpfe!« »Aber wenn nicht wir, wer dann?«, gelungen empfand ich von der Autorin auch den Zweispalt Widerstand leisten, ja oder nein dargestellt.

Ines ist eine sehr empathische Frau, die auf den ersten Blick sicher etwas naiv und unbedarft erscheint, die jedoch im Grunde nur um Anerkennung kämpft und es sich mit ihrem Gewissen alles andere als leicht macht. Sie ist gelungen gezeichnet, ebenso wie z.B. eine Celine, die sich wegen ihrer jüdischen Wurzeln zunehmend Sorgen machen muss, in ihrem Ehemann Theo leider ebenfalls nicht das findet, was sich braucht und sucht, wie eine Ines in Michael. Ich konnte mit beiden Frauen sehr gut mitfühlen und mitleiden. Liv im Heute war mir sympathisch und auch ihre Großmutter empfand ich durch das Geheimnisvolle äußerst interessant dargestellt.

Alles in allem ein lesenswerter, unterhaltsamer Roman der einen mit auf eine Zeitreise ins Weinbaugebiet Champagne in Frankreich im Zweiten Weltkrieg nimmt und mit einem Familiengeheimnis, das zunehmend mehr ans Buch fesselt gelungen unterhalten kann. Ganz knapp an den fünf Sternen vorbei.