Autofiktionales Schreiben at its best meets psychologisch fundierte Selbstanalyse

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luisabella Avatar

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»All die Fertigkeiten und Verhaltensmuster, die ein kleines missbrauchtes Mädchen lernt, kann es umstandslos und mit großem gesellschaftlichen Einverständnis als erwachsene Frau zur Verfügung stellen: Die Gefügigkeit, die hohe Sensibilität für die Wünsche anderer, die Duldsamkeit, die Abhängigkeit von Komplimenten und Anerkennung, die selbstverständliche Dienstleistungsorientierung, all das zahlt ein auf das tradierte Rollenbild. Wäre das Patriarchat ein Wirtschaftsunternehmen, würde ein weibliches Missbrauchs-Skillset umstandslos als Kompetenzprofil für weibliche High Performer durchgehen. Zumindest bei mir hat das tadellos geklappt.« (S. 51f)

Auf einer kanarischen Insel schreibt eine ältere Frau über ihr Leben und Lieben — angefangen vom frühen Missbrauch in ihrer Kindheit über ihre Jugend bis hin zu ihrem Sein als singuläre Frau und der Freiheit, die damit einher geht, dem Male Gaze nicht mehr ausgeliefert zu sein: »Denn alte Frauen sieht man nicht.« (8) Sie analysiert, wie der frühe Vertrauensbruch und Missbrauch sie geprägt haben und dabei werden bemerkenswert viele fachliche Belege und Studien in diese Analyse einbezogen. So erhält diese Selbstanalyse nicht zuletzt durch die zusätzliche Perspektiven und das Einfließen von psychologischem Fachwissen eine enorme Tiefe.

»Ein reifer, erwachsener Mensch kennt seine Grenzen und respektiert die der anderen. Das ist die Grundvoraussetzung für gelingende zwischenmenschliche Bindungen. Simple but not easy. Denn eine Grenze ist nun einmal ihrem Wesen nach ein doppelgesichtiges Phänomen: Sie trennt, indem sie Innen und Außen unterscheidet, und sie verbindet, indem sie die Voraussetzung für Berührung schafft. Damit ist sie in gleichem Maße der Ort des existenziellen Voneinander-getrennt-Seins wie der Ort der intimsten Begegnung.« (S. 134)

»DAS LIEBEN DANACH« ist das literarische Debüt der Autorin Helene Bracht*, in dem sie über das L(i)eben nach einer Misshandlung und Vertrauensmissbrauch schreibt. Wie geht es weiter? Wie lässt sich l(i)eben? Sie schreibt in diesem schmalen Buch über so viel mehr: Mis$brauch als Grenzverletzung; Kritik an der medialen Ausschlachtung des Themas sowie vergleichsweise langsamen Forschung; Selbstbefreiung, Selbstversöhnung, Nachkriegsgeneration, ambiguous loss, Scham, Kritik am Patrichariat, Sexualität, Miteinander.

»Verantwortung im Miteinander heißt, die Folgen, die das eigene Handeln für das Gegenüber haben kann, antizipieren, abwägen und Anteil nehmend in Entscheidungen übersetzen zu können. Sie bedeutet also ständige Achtung vor der Integrität eines anderen Menschen, aktive Sorge für den Schutz von dessen Unversehrtheit.« (S. 169)

Erschütternd ehrlich, selbstversöhnlich, kritisch, intelligent, mutig, sachlich und dabei trotzdem persönlich schreibt Helene Bracht autofiktional über ihr eigenes Leben, Sexualität und Beziehungen. Ein schmales Buch, das mit so einer sprachlichen Kraft, so viel Inhalt und Tiefe daher kommt, dass es sich nach so viel mehr anfühlt, wenn mensch das Buch nach 177 Seiten beendet hat. Ein Buch, das lange nachhallt; viel Wissen, Empathie und Versöhnung vermittelt. Große Leseempfehlung 💜, aber bitte beachtet den CN 🫂

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[CN: Kindesmissbrauch, psychische Gewalt]

* als Psychologin & Coach hat sie bereits mehrere Fachbücher unter ihrem bürgerlicher Namen Mechthild Erpenbeck veröffentlicht.