Versteckte Leerstellen
Der Anfang dieses Buches könnte fast idyllisch sein: Eine ältere Frau verbringt ein paar Wochen in einem All-inclusive-Club auf den Kanaren, um zu schreiben. Eine autobiografische Annäherung soll es werden, allerdings kein nostalgischer Blick zurück auf ein langes Leben, sondern die Einkreisung eines frühen Missbrauchs und dessen Auswirkungen auf ihr weiteres Leben und vor allem auf ihr Lieben danach – denn wie soll das funktionieren, wenn das eigene Empfinden so erschüttert worden ist? Helene Bracht, unter Pseudonym schreibende Theaterregisseurin und Psychologin, hat einen wirklich mitreißenden Text geschrieben, der mich sehr berührt und beschäftigt hat. Sie erzählt von einem Missbrauch durch einen Bekannten ihrer Mutter, von ihren widersprüchlichen Gefühlen zu dem Mann, einerseits war da Angst und Schmerz, das Nichtverstehen des Unfassbaren, auf der anderen Seite aber auch ein seltsamer Stolz, die Auserwählte mit dem geteilten Geheimnis zu sein. Erst als ihre Mutter Blut in ihrer Unterhose entdeckt, endet die Gewalt, stattdessen tritt jedoch die Scham in ihr Leben, denn die Eltern sind nicht in der Lage, angemessen mit der Situation umzugehen. Sie schweigen darüber, und damit beginnt ein jahrelanger Verdrängungsprozess, der Konsequenzen hat. Auf ihr Leben, aber ganz konkret auf ihr Liebesleben und ihre Sexualität, obwohl das vielleicht auf den ersten Blick nicht unbedingt zu erkennen ist. „Sexualität ist eine so fragile, so komplexe, so leicht korrumpierbare Interaktionsform, dass ich mich schon immer wundere, wie es manchen Menschen offenbar möglich ist, sich darin traumwandlerisch sicher und genussvoll zurechtzufinden.“ Helene Bracht hat viele Liebhaber:innen, die Beziehungen sind von unterschiedlicher Dauer, von kurzen Affären bis zu einer - in ihren Worten - mittelglücklichen Ehe ist alles dabei. Doch wirklich angekommen und angenommen fühlt sie sich nicht, etwas hält sie immer zurück, sich ganz zu öffnen. Und genauso sind die Muster gleich, die letztendlich zur Trennung führen. Brasch nähert sich ihrer Vergangenheit aus der Perspektive einer Therapeutin an, sie zitiert einschlägige Literatur zum Thema und schafft es dadurch, diesen sehr intimen Text auf eine allgemeingültigere Ebene zu heben. Und durch ihren schonungslosen Blick auf ihr Liebesleben, in dem sie sich nicht nur als Opfer sieht, sondern durchaus auch als Täterin – die Begegnung mit einer früheren Liebhaberin, an die sie sich kaum erinnert, ist da sehr augenöffnend –, stößt sie auch in uns Leser:innen etwas an. Die Sprache kommt oft leicht und umgänglich daher, doch dadurch entsteht ein Resonanzraum, der unzählige weibliche Stimme ertönen lässt und in dem sich bestimmt viele Frauen wiederfinden werden. Ein großartiges Buch, das ich allen Menschen empfehlen kann!