Packendes Fantasy-Spektakel

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marionhh Avatar

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Lord Verniers, der Geschichtsschreiber seiner Majestät des Kaisers des alpiranischen Reiches, soll den kaiserlichen Gefangenen Vaelin Al Sorna auf die Meldeneischen Inseln bringen, wo dieser einen Kampf Mann gegen Mann auf Leben und Tod ausfechten soll. Verniers ist voller Rachegedanken und Hass, hat dieser Mann doch die Hoffnung des Reiches, den erwählten alpiranischen Thronerben, im Krieg getötet. Zunächst ist Verniers distanziert, doch der Kämpe weiß ihn zu ködern: Auf der Überfahrt zu den Inseln erzählt Vaelin dem Chronisten die Geschichte seines Lebens, eine Geschichte voller Kämpfe, Krieg, Blut und Verrat.

So wie Vaelin weiß auch der Autor, wie man Menschen, in dem Fall uns Leser, ködert: Mit einer guten Geschichte, die packend erzählt wird, die vom ersten Augenblick an fesselt und zudem noch fesselnde Charakter beinhaltet. An sich ist der immerhin über 770 Seiten starke Wälzer ein typischer Vertreter des Fantasy-Genres. Der Autor beschwört eine Welt herauf, die mittelalterlich anmutet. Das Sozialsystem ist feudal angehaucht, es gibt mehrere Reiche und konkurrierende Religionen. Auch die Begriffe sind mittelalterlich, es gibt Ritter, edle Damen, Brüder und Schwestern, die in Orden organisiert sind. Die Namen der Protagonisten muten je nach Herkunft gälisch, lateinisch oder orientalisch an, es gibt verschiedene menschliche Rassen. Frauen spielen lediglich eine untergeordnete Rolle, wenn dann tauchen sie als Heilerinnen/Ordensschwestern, als Huren oder als Prinzessinnen auf. Ihr Leben in einer von Männern dominierten Welt ist jedenfalls weitgehend aufs Haus beschränkt. Alles in allem eine Welt, die uns bekannt vorkommt, außer dass es andere Namen für Monate und Tage gibt und natürlich uns unbekannte Völker.

Die insgesamt 6 Orden haben sich alle auf eine bestimmte Aufgabe spezialisiert. Die des 6. Ordens, dem Held Vaelin angehört, ist ein Kämpferorden. Die Kinder werden früh in den Orden geschickt, haben ihre Familie zu vergessen und leben fortan nur noch für den Orden. Hier werden sie auf ihre zukünftige Aufgabe gedrillt: Krieg führen. Heiraten oder auch nur bei Frauen liegen ist ihnen untersagt. Die Schwere dieses Lebens spiegelt sich im Unterricht und in den sieben Prüfungen wider, die die Jungen während der Ausbildung absolvieren und bei denen bereits ordentlich ausgesiebt wird. Wer Glück hat, wird nur des Ordens verwiesen – viele andere sterben während einer Prüfung.

Vaelin selbst wird von seinem Vater in den Orden gebracht, ohne wissen warum. Er glaubt, dass dieser ihn nach dem Tod der Mutter nicht mehr bei sich haben will und lernt ihn zu hassen. Die Jungen in seiner Truppe sind ein bunt zusammengewürfelter Haufen unterschiedlicher familiärer und gesellschaftlicher Herkunft. Und doch wird aus fünf von ihnen – Vaelin, Nortah, Dentos, Barkus und Caenis – eine eingeschworene Gemeinschaft, ein harter Kern, der sich im Krieg und bei allen anderen Taten und Untaten unterstützt und sein Leben für den anderen geben würde. Diesen Prozess während der Ausbildungsphase zu verfolgen ist schon äußerst spannend. Ansonsten ist Vaelins Geschichte seines bisherigen Lebens eine Geschichte des Kämpfens, und das ist denn auch das Hauptthema des gesamten Buches. Schon in der Ausbildung müssen die Jungen, und besonders Vaelin, sich ständig beweisen, retten Freunde und sich selbst aus ausweglosen Situationen, verzetteln sich in Prügeleien und Scharmützeln. Nach ihrer Ausbildung sind sie vollwertige Brüder des Ordens und führen fortan ein Leben in Heerlagern, befinden sich im Lazarett oder in Gefangenschaft, werden gerettet oder sterben, kurzum: Sie führen Krieg.

Trotzdem wäre es zu simpel zu behaupten, dass dieses Buch eine bloße Aneinanderreihung von kriegerischen Auseinandersetzungen oder Zweikämpfen ist. Es geht es um mehr als nur ums Töten und Getötetwerden. Es geht um Freundschaft und Aufopferung, um Verrat und Treue, um Selbstfindung, die stark an die mittelalterliche Quest erinnert. Jeder der Protagonisten hat einen eigenen – mitunter sehr starken - Charakter, und jeder sucht sein persönliches Glück. Unter den Freunden im Orden und den anderen Protagonisten sticht natürlich Vaelin – eine Art Primus inter pares – am Deutlichsten hervor. Vaelin, der sich vom lebenslustigen Jungen zur tödlichen Kampfmaschine wandelt, der ohne Gewissensbisse und Reue tötet, aber auch Mitleid empfindet und Opfer verschont, der unerschütterlich treu und loyal bleibt, selbst wenn er starke Zweifel an der Richtigkeit einer Sache hat, und der selbst nach einem Verrat noch die Motive des Verräters zu verstehen versucht. Ein geradezu idealer Held, ein edler Ritter, der nie seinen Glauben in Frage stellt, der selbst bei offenen Hassausbrüchen ihm gegenüber noch höflich-höfisch bleibt und der zudem – und jetzt wird es magisch! - eine besondere Gabe hat: Er hört das Lied des Blutes. Diese Gabe, die ihn vor Gefahren warnt und mit der er in die Herzen der Menschen sehen kann, verfeinert er im Laufe des Buches, allerdings erlangt er erst am Ende eine gewisse Meisterschaft darin. Anfangs belastet es ihn eher und er kann damit nicht umgehen.

Insofern ist Vaelin der für mich packendste Charakter, das Buch ist ganz klar auf ihn und seine Persönlichkeit ausgerichtet, die Geschichte wird aus seiner Sicht erzählt und ich muss gestehen, dass er mein Herz erobert hat. Aber auch die anderen Protagonisten, und das spricht für die Fähigkeiten des Autors, sind vielschichtige Charaktere und bis in die Nebenfiguren gut herausgearbeitet. Prinzessin Lyrna zum Beispiel wirkte anfangs auf mich wie ein verwöhntes Gör, stellte sich jedoch als intelligente junge Frau heraus, die zwar recht skrupellos ihre Interessen verfolgt, aber auch Opfer ihrer Zeit ist. Ihre Intelligenz muss sie den Machenschaften der Männer unterordnen, ihre besonderen Gaben hält sie geheim, über ihr Leben kann sie nicht frei verfügen. Ihre Klugheit und ihr Humor blitzen jedoch immer mal wieder hervor, und insofern halte ich sie für den interessanteren Charakter als Sherin, Vaelins große Liebe. Und von anderen Frauenfiguren wollen wir gar nicht reden, sie spielen keine größere Rolle. Auch Vaelins Freunde Nortah und Canis und auch Lord Verniers, der Chronist, werden so spannend beschrieben, das man eigentlich am liebsten mehr über sie erfahren möchte.

Strukturell ist das Buch in fünf Teile gegliedert, jeder Teil beginnt mit Verniers Bericht, in der Ich-form erzählt, dann folgt Vaelins Lebensgeschichte mit eigener Kapitelzählung. Jeder Teil beginnt wieder bei Kapitel eins, obwohl die Ereignisse chronologisch verlaufen. Vorangestellt ist jeweils ein Auszug aus Chroniken oder Gedichten der bekannten - fiktiven - Welt. Die zwei unterschiedlichen Erzählperspektiven werden zudem optisch hervorgehoben: Verniers Bericht ist kursiv gedruckt. Das Buch kommt edel gebunden daher mit hochwertigen Schutzumschlag und ansprechendem, ebenfalls mittelalterlich anmutendem Cover. Inhaltlich versorgt es den geneigten Leser zudem mit Kartenmaterial, einem Namensregister der wichtigsten Personen sowie die Regeln des Spiels Keschet – ein äußerst anspruchsvolles Strategiespiel, das dem Schach ähnlich ist und das Prinzessin Lyrna meisterhaft beherrscht und nicht nur auf dem Spielbrett erfolgreich anwendet.

Fazit: Ein tolles und fesselndes Buch mit offenem Ende, das natürlich nach einer Fortsetzung schreit, schließlich heißt es ja im Untertitel Rabenschatten 1, und die im Englischen ja auch schon erschienen ist und auf deren Übersetzung und Herausgabe im Deutschen wir nun mit Hochspannung warten („Tower Lord“). Zu keinem Zeitpunkt langweilig, obwohl das alles beherrschende Thema das Töten und Kämpfen ist, und bei Weitem nicht nur für spezielle Fantasy-Fans geeignet. Für die natürlich ein Muss, ebenso für alle, die Games of Thrones mochten und solche, die einfach gute Action gepaart mit doch mitunter überraschend tiefsinnigen Gedankengängen und spannenden Charakteren mögen.