Unheimlich, gewaltig und angstmachend

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
nathalielamieux Avatar

Von

Vorweg: „Das Lied des Propheten“ von Paul Lynch ist unheimlich, gewaltig und angstmachend – und äußerst lesenswert.
In den letzten vier Jahren zog es mir zwei Mal den Boden unter den Füßen weg. Die Corona-Pandemie und die Flut sorgten dafür, dass ich sehr viele Grundpfeiler meines Denkens und Empfindens neu justieren musste. So vieles, was sicher geglaubt, was als stabil und dauerhaft empfunden wurde, wurde über einen Haufen geworfen. Was „undenkbar“ war, einfach „unmöglich“ schien, war auf einmal Realität. Angst um die eigene Sicherheit haben, im eigenen Haus über Fluchtmöglichkeiten nachdenken – all das war bei schönstem Sonnenschein ein Riss in allem zuvor Gedachtem. Und genauso geht es Eilish, in einem Irland unserer Zeit, in der es einen Regierungswechsel gab. Die vierfache Mutter öffnet die Haustür und davor stehen zwei Beamte der neu gegründeten irischen Geheimpolizei. Sie möchten ihren Mann Larry, der sich in der Lehrergewerkschaft engagiert, verhören. Einige Zeit später verschwindet Larry und ihre Welt verändert sich zusehends. Alleine mit vier Kindern und einem dementen Vater, um den sie sich kümmern muss, muss sie täglich auf die neuen Begebenheiten reagieren. Ausgangssperren, Krawalle, Kontrollen, Lebensmittelengpässe, fehlendes Wasser - die Lebenssituation verändert sich immer schneller und Eilish bemüht sich, ihre Familie da durchzunavigieren, in einem System, das längst eine Eigendynamik entwickelt hat. Ihre Schwester in Kanada fordert sie auf, mit ihrer Familie dorthin zu auszureisen. Aber wie kann man das Land verlassen und alles zurücklassen? Wann ist der richtige Zeitpunkt dafür? Und wenn man ihn verpasst? Auf einmal fliegen Bomben…

Ich möchte hier nicht zu viel vorwegnehmen, aber die Spirale dreht sich immer schneller in sich selbst, das Buch reißt einen mit in diesen Sog von unausweichlichen Situationen und Erschütterungen. Mit angehaltenem Atem las ich sie, fühlte körperlich wieder dieses Entsetzen, dieses Bodenlose und die Frage – wann ist der richtige Zeitpunkt, etwas zu tun?
Eike Schönfeld hat diesen mit dem Booker Prize 2023 ausgezeichneten Roman aus dem Englischen übersetzt und ich kann nur meinen Hut vor dieser Übersetzung ziehen. Denn dieser Roman über das Leben des Einzelnen in einem autoritärem Regime, das unseres sein könnte, ist nicht nur inhaltlich unfassbar stark, sondern auch sprachlich eine echte Gewalt. Nahezu lyrisch werden die Gedanken von Eilish mit uns geteilt, die Sprachmelodie dieses „Prophet’s Song“ ist sehr eindringlich und intensiv und schön – eben wie die Sonne über der Flut.
Ein echtes Highlight und absolut zu Recht preisgekrönt!