Der "Ach wie niedlich-Effekt" oder schon zu alt für Mitleid und Rührung?

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bovary Avatar

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Inhalt (gemäss Innenklappe des Buches)
Irgendwo in einer großen Stadt, in Westeuropa. Auf einem Markt steht plötzlich ein kleines Kind. Man gibt dem Mädchen zu essen und zu trinken. Sie versteht kein Wort der Sprache, die man hier spricht. Doch wenn jemand „Polizei“ sagt, beginnt sie zu schreien. Woher sie kommt? Warum sie hier ist? Wie sie heißt? Sie weiß es nicht. Yiza, sagt sie, also heißt sie von nun an Yiza. Als Yiza zwei Jungen trifft, die genauso alleine sind wie sie, tut sie sich mit ihnen zusammen.

Ich muss gestehen, dass ich dieses Buch vor allem aus zwei Gründen lesen wollte: erstens haben mich die Titelgestaltung und der Titel angesprochen und zweitens hatte ich von Michael Köhlmeier schon „Zwei Herren am Strand“ gelesen und die Geschichte hatte mir gefallen.
Also wusste ich vom Inhalt des „Mädchens mit dem Fingerhut“ eigentlich nicht viel. So dachte ich, bis etwa zur Hälfte des Buches, dass die Geschichte eher irgendwo in Osteuropa spielen würde, da die Namen am Anfang eher so klangen (z.B. Bogdan, der Lebensmittelhändler am Anfang des Buches, von dem das Mädchen Essen und Kleidung bekommt und die Namen der beiden Jungen: Schamhan und Arian). Im Verlauf der Geschichte aber, vor allem durch die Frauennamen, welche erwähnt werden (Agnes, eine Schwester im Kinderheim(?) und Renate, einer älteren, seltsamen Frau), tippte ich dann eher auf eine Stadt irgendwo in Deutschland oder Österreich (mit U-Bahn).
Es war sowieso schwierig, irgendetwas in diesem Buch festzumachen.
Wo es spielt wird nie exakt erwähnt, es kommen selten Namen vor, es wird nie gesagt in welcher Zeit es spielt (mal abgesehen davon, dass es Winter ist und ein ziemlich harter wie es scheint noch dazu, hätte es ja auch in den 1980ern oder 1990ern (etc.) spielen können. Mir wurde erst bewusst, dass es wahrscheinlich in der Gegenwart spielt als das Internet erwähnt wurde, aber Handys werden z.B. nie erwähnt, doch seltsam in der Smartphone Zeit?).
Über Yiza‘s Herkunft (oder der der beiden Jungen) erfährt man auch nichts, nur dass sie einen Onkel (falls er wirklich ihr Onkel ist) hat, welcher sie dann aber auch im Stich lässt (oder dem etwa passiert ist) und, dass sie früher mit Frauen unterwegs war, für die sie Lebensmittel aus den Containern gefischt hatte, sonst nichts. Auch nichts über die Sprachen, welche die Kinder oder sonst irgendjemand im Roman sprechen und von den Sprachen scheint es ja immerhin ein paar verschiedene zu geben, aber welche?
Aber ich denke, Köhlmeier hat es extra so geschrieben, weil es aus der Sicht der 6-jährigen Yiza erzählt wird. Jedenfalls kam es mir so vor, da die Sprache wirklich auf einem einfachen Niveau gehalten wird. Dem Stil nach hätte es ein Kinderbuch sein können, der Inhalt aber, ist dafür auf eine Art umso schwieriger zu enträtseln (vor allem auf den letzten paar Seiten).
Die Geschichte ist eine Odyssee (oder ein Road-Trip) eines, dann dreier und dann wieder nur zweier Kinder ohne Vergangenheit/Herkunft und ohne ein eigentliches Ziel. Manchmal wirkte es wie ein Märchen (Suche nach einem leeren Haus im Wald, um über den Winter zu kommen und um nicht abgeschoben zu werden). Dann wieder dachte man eher an „Oliver Twist“ (Einbruch in ein anderes Haus). Und über Erwachsene, welche entweder inkompetent und einfach nur unfähig sind (die Polizei, welche z.B. nicht einmal einen Dolmetscher auftreiben kann), Erwachsene, welche einfach nur Ignorant sind (Geld und Nahrung geben sie den Kindern wenn sie betteln, aber würde nur irgendeiner ein bisschen über die ganze Sache auch nachdenken und sich fragen, was diese Kinder eigentlich machen und wo die Eltern sind? Nein, warum auch, ein bisschen Geld geben und das Seelenheil oder die Beruhigung des (bisschen) Gewissens ist schon erledigt. Aber wahrscheinlich hat man auch Angst als potentieller Entführer oder Sexualtriebtäter angesehen zu werden) und einer vereinsamten(?), älteren Frau (Renate), welche so weit geht, ein Kind ohne Herkunft einfach bei sich gefangen zu halten, anstatt es zu (unfähigen) Beamten zu bringen. Und über eine Gesellschaft, welche den „Ach wie niedlich-Effekt“ auf alle Lebewesen ausgeweitet hat, aber wenn das (für Menschen) Niedliche dann verschwunden ist, es einem egal ist was passiert (Tiere werden eingeschläfert oder ausgesetzt, Kinder sind einem dann sogar auch egal, wenn sie betteln bekommen sie nichts mehr, sie werden ebenso ignoriert wie vieles andere). Kein Mitleid, keine Rührung mehr.
Aber als Gegenpol auch über Kinder, welche - wie es scheint - schon so aufwachsen, dass kriminelles Verhalten etwas Normales ist, und welche aus diesem Teufelskreislauf wahrscheinlich nie wieder herausfinden, da die Gesellschaft gar nichts dagegen unternimmt, sondern das Ganze durch ihr (falsches) Tun und Lassen sogar eher noch unterstützen.

Fazit: Eine vom Sprachstil kindliche, aber vom Inhalt schwierige Geschichte, welche der Gesellschaft mal wieder versucht den Spiegel vors Gesicht zu halten. Aber wird der Leser überhaupt bemerken, was er dann sehen würde?