Ein Kinderschicksal

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hurmelchen Avatar

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Michael Köhlmeiers neuer Roman " Das Mädchen mit dem Fingerhut" mutet nicht nur aufgrund des Titels, wie ein Märchen von Hans -Christian Andersen an.
Märchenhaft ist auch die Ausgangssituation: Ein kleines Mädchen ( wir kennen weder Name, Alter noch Nationalität) wird in einer Stadt, deren Identität man ebenfalls nie erfährt, von einem " Onkel" zurückgelassen, und muß sich allein durchs Leben schlagen. Das Kind wird jedoch aufgegriffen, kommt ins Heim, flüchtet aber wieder von dort, mit zwei älteren Jungen, die sie mitnehmen. Fortan kämpfen die Kinder gegen Hunger, Kälte und eine Gesellschaft, die sich nicht um sie kümmert.
Und genau hier endet alles Märchenhafte.

In der einfachen Sprache und aus der Sicht des kleinen Mädchens, welches sich im Verlauf der Geschichte Yiza nennt, erzählt Köhlmeier von allen Schrecken, die dem Kind begegnen.
Das ist meisterhaft, verliert er sich doch nie in Plattitüden oder sentimentalem Geschwätz. Immer ist er ganz nah an Yiza dran, schenkt dem Leser die Erfahrung durch das Kind.
Als Arian und Schamhan, die beiden Jungen, ins Spiel kommen, wagt Köhlmeier dann den Perspektivwechsel, und erzählt ganze Passagen aus Arians Sicht.
Eindringlich erlebt der Leser den Hunger und die Kälte, denen die Kinder ausgesetzt sind und begreift, daß ein kleines Glück manchmal nur aus Brot und Tee besteht, wenn man das Leben auf existentielle Bedürfnisse herunterbricht.
Leben bedeutet in Köhlmeiers Erzählung Überleben.

Obwohl Yiza weder die Sprache des Landes spricht, in dem sie sich aufhält, noch die Sprache des Jungen Arian, der zu ihrem wichtigsten Beschützer wird, gelingt, zumindest partiell, das Überleben.
Will Köhlmeier damit andeuten, daß Empathie und Mitmenschlichkeit wichtiger sind, als Sprache?
Im Verlauf der Geschichte wird ein Band zwischen Yiza und Arian geknüpft, welches über verbales Verstehen hinausgeht. Sie werden im Guten, wie im Schlechten, zu Blutsgeschwistern.
Köhlmeiers Meisterschaft besteht auch darin, diese komplexe Geschichte auf nur 140 Seiten zu entwickeln.
Die minderjährigen Kinder werden in diesen 140 Seiten erwachsen.
Sie fällen Entscheidungen, die nicht mehr zu revidieren sind und beschreiten einen Weg, auf dem es kein Zurück gibt.

So ist dieser Roman der Kommentar zur größten Europäischen Herausforderung unserer Tage- der Flüchtlingskrise. Schicksale, wie im Buch beschrieben, gibt es dieser Tage zuhauf.
Daß Kinder die größten Verlierer dieser Katastrophe sind, liegt auf der Hand.
Umso erschütternder ist die Haltung der Erwachsenen in Köhlmeiers Werk.
Keiner fühlt sich verantwortlich, niemand sieht wirklich hin. Die Erwachsenen, denen Yiza begegnet,und die für sie Hilfe bedeuten könnten, handeln entweder nach Vorschrift, glauben, daß ein paar Almosen reichen, agieren selbstsüchtig, oder sind schlicht und ergreifend ignorant.

Das Tragische an Michael Köhlmeiers Roman ist, daß es keine Lösung und keine Erlösung für die Kinder gibt!