Zeitreisen mal anders gedacht

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nathalielamieux Avatar

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Was wäre, wenn wir Menschen aus der Vergangenheit in unsere Gegenwart holen könnten – nicht nur ihre Geschichten, sondern sie selbst? "Das Ministerium der Zeit" von Kaliane Bradley, aus dem Englischen übersetzt von Sophie Zeitz, ist ein leiser, vielschichtiger Roman über Zeit, Macht und Identität – und gleichzeitig ein überraschend unterhaltsames, oft sogar witziges Buch, das den Spagat zwischen Gefühl und Gesellschaftsreflexion mühelos meistert.

Die Erzählerin, eine britische Regierungsangestellte mit familiären Wurzeln in Kambodscha, wird Teil eines streng geheimen Zeitreiseprojekts. Ihre Aufgabe: einen "Expat" aus dem 19. Jahrhundert zu betreuen – den historischen Polarforscher Graham Gore, der nun im London der Gegenwart lebt, in einer sterilen, überwachten Wohnung. Zwischen den beiden entwickelt sich eine Beziehung, die von Misstrauen, Neugier, kultureller Dissonanz und stiller Intimität geprägt ist. Gore ist Teil einer Gruppe von Expats aus verschiedenen Jahrhunderten, die nun um heutigen London mit ihren Verbindungsoffizieren, den sog. "Brücken" zusammenleben.

Bradley verbindet große Themen wie Kolonialismus, kulturelle Entfremdung, Bürokratie und Zugehörigkeit mit einer charmanten, oft ironischen Erzählweise. Ihr Debüt wurde nicht umsonst auf die Longlist des Women’s Prize for Fiction 2024 gesetzt – es ist klug konstruiert, stilistisch elegant und dabei erstaunlich zugänglich.

Gerade die Mischung aus scharfer Beobachtung, emotionaler Tiefe und feinem Humor macht die Lektüre zu einem echten Vergnügen – anspruchsvoll, aber nie schwerfällig. Ein Roman, der nicht nur nachdenklich macht, sondern auch Spaß bereitet.

Fazit: Ministerium der Zeit ist ein beeindruckendes Debüt – literarisch, originell und überraschend leichtfüßig in seiner Tiefe. Ein Buch, dessen Fragen durchaus im Gedächtnis bleiben – und das man mit Genuss liest.