An der Hand einer charismatischen alten Dame

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lena.br Avatar

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Ein Schriftsteller wird völlig unerwartet zum 100.Geburtstag von der bedeutenden Architektin Anouk Perleman-Jacob eingeladen. Sie will, dass er es ist, der ihre Geschichte erzählt. Der Schriftsteller hat einen zweifelhaften Ruf. Man munkelt sogar, er habe einige Geschichten frei erfunden und behauptet, sie seien wahr.
"(...) vergessen Sie nicht, wer Sie sind: Sie sind der, dem man glaubt, wenn er lügt, und nicht glaubt, wenn er die Wahrheit sagt", sagt Anouk Perleman-Jacob zu ihm. Aus diesem Grund, findet die 100-Jährige, ist der Schriftsteller genau der Richtige, um eine dunkle Seite ihres Lebens zu erzählen, eine, von der bisher noch niemand weiss.

Anouk Perleman-Jacob wurde als kleines Mädchen gemeinsam mit ihrer Familie auf eines der sogenannten "Philosophenschiffe" gebracht und von Russland aus ins Exil deportiert. Eines Tages kommt ein letzter Gast auf das Schiff. Er wird zu einem Freund des Mädchens. Und er ist derjenige, der veranlasst hat, dass sie ihre Heimat verlassen müssen.

Michael Köhlmeier behandelt in "Das Philosophenschiff" ein Thema, das mir noch völlig unbekannt war, aber sehr viel Potential hat. Die Geschichte wird auf zwei Ebenen erzählt. Zum einen begleiten wir den Schriftsteller, wie er die alte Dame besucht und erfahren auch etwas über seine Person und sein Leben. Der zweite Erzählstrang setzt sich aus den Erinnerungen von Anouk Perleman-Jacob zusammen.

Mir hat besonders die Figur der charismatischen 100-Jährigen gefallen. Ich mochte, wie sie gezeichnet war, ich mochte ihre skurrile, manchmal schrullige aber meist messerscharfe und doch witzige Art. Köhlmeier hat den Spagat zwischen den beiden Erzählebenen in meinen Augen perfekt geschafft und das hat mich sehr beeindruckt.

So sind die Erzählungen der 100-Jährigen in einer Sprache und vor allem einem Ton gehalten, der es einem als Leser bzw. Leserin leicht macht, sich eine alte Dame vorzustellen, die einem genau diese Geschichte erzählt. Fokussiert sich die Handlung wieder auf den Schriftsteller wird man aus dieser Erzählung ins Jetzt katapultiert und der Übergang ist flüssig.

Abgesehen davon, dass die Lebensgeschichte von Anouk Perleman-Jacob sehr bewegend und berührend ist und genau mit den richtigen Worten erzählt wird, hat dieses Buch aber auch noch eine andere Stärke, die mich sehr fasziniert hat: Köhlmeier bringt einem auf eine sanfte Art viele historische Fakten über die russische Revolution und die Aktion mit den "Philosophenschiff" näher. Trotz vieler historischer Details (die ich ehrlich gesagt auch nicht alle behalten konnte) verliert man den Faden nie und behält, dank der gekonnten Erzählweise einen guten Überblick und die spannende Geschichte der Architektin bleibt im Vordergrund.

Um "Das Philosophenschiff" zu lesen braucht man kein grosses Vorwissen über die damalige historische Situation, Köhlmeier ermöglicht es einem, gemeinsam mit einer sehr charmanten, wenn auch eigenwilligen, alten Dame durch die Zeit zu reisen.

Der Roman hat mir sehr gut gefallen, auch wenn er ab und zu Passagen hatte, die sich gezogen haben. Ich würde ihn besonders denen empfehlen, die ein gewisses Interesse für die Geschichte von Russland mitbringen, das ist aber nicht einmal nötig. "Das Philosophenschiff" ist definitiv auch sonst lesenswert, allein schon wegen der Figur von Anouk Perleman-Jacob und wegen ihrer berührenden Geschichte, die wohl nur die wenigsten Leserinnen und Leser kalt lässt.