Schlingerkurs zwischen Wahrheit und Dichtung

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Auf 221 Seiten erzählt der österreichische Autor Michael Köhlmeier in neunzehn kurzen Kapiteln und einem abschließenden Abspann von den Erinnerungen der mittlerweile 100-jährigen aus Sankt Petersburg stammenden Architektin Anouk.
Ausgangspunkt ist die Begegnung der 100-jährigen Architektin und des Schriftstellers auf deren Jubiläumsfeier 2008 in Wien, Dreh- und Angelpunkt des Erzählten und titelgebend für den Roman ist die Reise der damals 14jährigen auf einem sogenannten "Philosophenschiff", welches sie und ihre Eltern 1922 von Russland deportierte.
Der Autor lässt seine Protagonistin über mehrere Tage hinweg sehr ausschweifend sowohl vom Leben im zaristischen und vorrevolutionären Russland erzählen als auch vom schwierigen und gefährdeten Leben der Intellektuellen-Familie unter der Herrschaft der Bolschewiki.

Es sind viele Sprünge in den Schilderungen der betagten Dame, die sich in ihre Kindheit zurückversetzt fühlt. Die Figuren der Architektin und des zumeist zuhörenden und mitschreibenden Schriftstellers finde ich in Sprache und Gestaltung gut kenntlich voneinander abgesetzt, so dass ich dem Verlaufe der Romanhandlung gut folgen kann. Die alte Dame nimmt dabei sehr viel Platz ein und lässt ihre Monologe mitunter sehr mäandern.

Im Zentrum stehen die Tage an Bord des luxeriösen Dampfers, irgendwie bleibt dabei auch die Zeit stehen.
Mancher Einschub des Autors erscheint mir etwas aufgesetzt, die Story an sich gewinnt ihren Reiz im Auffädeln des Gesagten und der Balance zwischen historischen Verbürgtem und Fiktivem. Dichtung und Wahrheit gewissermaßen. Die Begegnung mit dem damaligen sowjetrussischen Staatsführer und Verantwortlichen für die Deportation der wenigen Personen auf dem Schiff - Wladimir Iljitsch Lenin - finde ich spannend und unterhaltsam.
Hier erscheint mir Lenin als schwache, zuweilen etwas melancholische und entrückte recht hilflose Person im Rollstuhl.
Gleichsam sind im Roman auch das magische Dreieck der mächtigen Machtmenschen und Politiker Trotzki - Lenin - Stalin angedeutet und beleuchtet und im vorletzten Kapitel aus Sicht der beobachtenden Anouk Lenins Scheitern sehr lebendig und leibhaftig bedrohlich in der Begegnung Lenins mit einer Stalin ähnlichen Figur auf dem Schiff gefasst.

Das Cover gefällt mir ausnehmend gut und bringt genau die ambivalente Stimmung auf dem Schiff und die Einsamkeit und Verlassenheit sowie Ungewissheit zum Ausdruck.
Insgesamt hatte ich ein zwar anstrengendes - über weite Teile des Romangeschehens hinweg - aber auch sehr anregendes Leseerlebnis.