Verlorene Heimat

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Der renommierte Autor Michael Köhlmeier vollzieht in seinem neuen Roman „Das Philosophenschiff“ ein gekonntes, brillantes Spagat aus Fiktion und wahren geschichtlichen Ereignissen aus der ehemaligen Sowjetunion. Eine fiktive, betagte Frau vertraut ihre schmerzhaften Erinnerungen an den bolschewistischen Terror und der turbulenten Überfahrt auf einem damals real existierenden Philosophenschiff einem Schriftsteller und zugleich Alter Ego von Köhlmeier selbst an.

Die bekannte Architektin Anouk Perleman-Jacob wird 100 und will ihre Erinnerungen an eine bestimmte Zeit in ihrem Leben nochmal festhalten lassen – sie sucht sich einen bestimmten Schriftsteller aus und in 20 Kapiteln taucht sie tief ein in Zeiten der Oktoberrevolution, Hungersnot, Bürgerkrieg, Terror und schließlich der Vertreibung aus ihrem geliebten Sankt Petersburg. Reale historische Personen wie Dichter und Denker wechseln ab mit fiktiv verwobenen Erlebnissen von der kleinen Anouk und ihren Eltern, die vor knapp 100 Jahren zusammen mit vielen weiteren Intellektuellen mit einem Passagierschiff des Landes verwiesen wurden und nach bangenden, ungewissen Tagen im Meer perspektivlos im deutschen Exil landeten.

Soghaft, atmosphärisch und durchaus humorvoll spielt Anouk dabei mit Wahrheit und Dichtung, während der Schriftsteller fasziniert den Erzählungen lauscht und nebenher selbst zu recherchieren beginnt. Denn Köhlmeier hat ein spannendes, packendes literarisches Verwirrspiel aus Wahrheit und Fiktion entworfen, das tief in die bewegenden Ereignisse hineinzieht und doch auch Raum für Spekulationen lässt. Am Ende behauptet Anouk, Lenin selbst kam als alter, kranker Greis und geheimer Passagier auf das Philosophenschiff und erzählt von den Gesprächen zwischen ihnen.

„Die Ereignisse überschlugen sich, wie man so sagt. Ich habe mir das immer bildlich vorgestellt. Eine Welle. Wenn sie auf die Küste zurollt und sich überschlägt, und in dem Wasser schwimmen die Ereignisse wie Algenfetzen, aber in der Gischt sind sie nicht mehr zu sehen, da ist alles weiß.“ S. 184

Klug-pointiert komponiert und gewohnt eloquent hat Köhlmeier einen zeitlosen, philosophisch angehauchten Roman entworfen, der zwischen Erinnerung und Schrecken, Humor und Leid changiert und aufzeigt, wie sich Geschichte, Terror und Vertreibung (leider) wiederholen können und sich auf das weitere Leben auswirken. Auch sind die historischen Details, Settings und die zahlreichen Personen sehr eindringlich und authentisch-dicht gezeichnet und inspirieren zur eigenen Recherche der russisch-sowjetischen Geschichte während des sehr lesenswerten und anspruchsvollen Romans.