Wahrheit oder Fiktion?

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schneeglöckchen_gk Avatar

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Michael Köhlmeier entwirft in seinem Roman ein Szenario, bei dem die hundertjährige Architektin Anouk Perlemann-Jacob einen Schriftsteller in Beschlag nimmt, um ihm aus ihrem Leben zu erzählen. Im Fokus steht dabei eine Episode aus ihrer Jugend. Gemeinsam mit ihren Eltern wurde sie aus der Sowjetunion verbannt und auf einem Kreuzfahrtschiff ins Exil verschifft. „Wir fuhren auf dem Philosophenschiff – das klingt wie aus einem romantischen Roman. Oder aus einer Satire.“ (Seite 95) Ob es sich bei dem vorliegenden Buch um einen Roman oder eine Satire handelt, müssen die Leser selbst herausfinden.
Die Geschichte wird als Monolog von Anouk Perlemann-Jacob erzählt. In direkter Rede gibt der Erzähler, der Schriftsteller, das mit ihr geführte Interview wider. Unterbrochen wird dies nur von ganz kurzen Dialogen und seltenen sonstigen Einschüben. Zeitweise fühlt man sich dem Redeschwall der alten Dame regelrecht ausgeliefert.

Der Roman spielt gewitzt mit der Erzählerrolle. Direkt zu Beginn wird die Glaubwürdigkeit des Erzählers untergraben und auch die Zuverlässigkeit der eigentlichen Sprecherin, der 100-jährigen Architektin ist fraglich. Sie versteht „[d]ie Wahrheit [als] die Erinnerung an sie.“ (Seite 141) Es gäbe sicherlich unzählige Möglichkeiten, dieses Konzept zu interpretieren und auf einer Metaebene darüber zu diskutieren. Allerdings konnte mich der Ansatz nicht überzeugen und die omnipräsente Frage, was nun wahr ist und wem man vertrauen kann, hat das Leseerlebnis zermürbt.
Zu Beginn kam ich eher schleppend voran, habe das Wirrwarr aus Erinnerungen als ermüdend empfunden. Als ich mich an die Ausdrucksweise gewöhnt hatte, hat sich das gebessert und ich habe streckenweise gebannt und flott gelesen. Nur zum Schluss hin war ich dann wieder so genervt vom Inhalt, dass Unmut aufkam.
Das Gemälde von Eugen Bracht auf dem Cover finde ich grundsätzlich sehr schön und ansprechend. Allerdings passt diese trübe Landschaftsmalerei für mich nicht zum Inhalt des Romans. Weder zu dem beschriebenen Kreuzfahrtschiff, noch zur politischen Dimension oder zum Zeitkontext.

Es erscheint mir fahrlässig, dass ein solches Buch ohne Nachwort herausgegeben wird. „Die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit – das kann niemand von niemandem verlangen. Ein bisschen Wahrheit aber schon.“ (Seite 180) Frei nach diesem Zitat hätte ich mir sehr dringend eine Einordnung des Gelesenen gewünscht. Vermutlich ist der Roman gut geeignet für Menschen, die entweder ein fundiertes historisches Wissen mitbringen oder es lieben, während dem Lesen selbst zu recherchieren und sich über den Text hinaus damit zu beschäftigen und z.B. Namen zu googlen oder den Wahrheitsgehalt von Aussagen zu überprüfen.

Bisher hatte ich kein Buch von Michael Köhlmeier gelesen. Anhand des Klappentextes hatte ich die interessante Lebensgeschichte einer Architektin erwartet und mich darauf gefreut, nebenbei etwas über die Zeit des Bolschewismus zu lernen. Beide Erwartungen wurden leider nicht erfüllt.
Ich würde keine Empfehlung für das Buch aussprechen, denn am Ende weiß ich nicht, was ich daraus mitgenommen habe, außer sehr vielen Fragezeichen. Mir hat der aufdringliche und teilweise hanebüchene Monolog der Hundertjährigen keinen Spaß gemacht. Ich sehe zwar die interessanten Ansätze, wie die Erzählweise mit den Erzählerrollen spielt, Zuverlässigkeit, Wahrheit und Vertrauen in Frage gestellt werden. Aber die vorliegende Umsetzung konnte mich leider nicht für dieses Konzept begeistern. Dass eine objektive historische Einordnung am Ende ausbleibt, lässt die Lektüre leider noch fraglicher wirken.