Das Mädchen aus der Kälte

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Wälder mit riesigen Bäumen, Weiten, hohe Berge, eine fast unberührte wilde Natur, schöne wie furchteinflößende Raubtiere und ihrer kalten Umgebung in Fell und Farbe angepasste Schneetiere – dieses Alaska mutet zu Beginn des 20. Jahrhunderts wie aus einem Märchen entsprungen an, in dem Schönheit und Grausamkeit Hand in Hand gehen.
Mabel und Jack sind in dieses kalte, wilde Land gekommen, um in der späten Mitte des Lebens noch einmal neu anzufangen. Fern von der Verwandtschaft mit ihren schmerzlichen Familienfeiern, fern von jeder Zivilisation, Menschen und vor allem Kindern. Eine tiefe Traurigkeit hat sich auf das Paar gelegt, nachdem Mabel vor zehn Jahren ihr lang ersehntes Kind tot gebar und danach nie wieder schwanger wurde. Der Wunsch nach einer großen Familie mit vielen Kindern hat sich nicht erfüllt, während um sie herum alle Kinder bekamen und Mabel mit mitleidigen, vielleicht auch abschätzigen Blicken bedacht wurde. In Alaska wollen sie nun nur zu zweit neu beginnen und geraten schnell an ihre Grenzen. Das Land ist rau und wirft noch nicht genug zum Leben ab, die Ersparnisse sind nahezu aufgebraucht und Mabels Traurigkeit wird immer stärker. Jack baut einen vorsichtigen Kontakt zu den nächsten Nachbarn auf und Mabel findet wenn auch widerstrebend Gefallen am Umgang mit der resoluten Esther und ihrer Jungenbande. Dann fällt der erste Schnee des Winters und aus Übermut und Lebensfreude baut das alternde Paar einen Schneemann, der nach und nach die Züge eines kleinen Mädchens annimmt. Hoffnung auf Glück und Leichtigkeit schwebt durch die Nacht, Mabel und Jack begeben sich endlich wieder einander zugewandt zur Ruhe. Am nächsten Morgen ist das Schneemädchen verschwunden mitsamt Mabels Strickschal und ihren Fäustlingen, und in den nächsten Tagen und Wochen erhascht das Paar immer mal wieder einen Blick auf ein kleines Mädchen mit strohblonden Haaren, einem blauen Mantel und einem Schal, der Mabel nur zu bekannt vorkommt.
Eowyn Ivey vermischt auf fast virtuose Weise realistisches Erzählen mit einer alten russischen Märchenweise, so dass sich der Leser nie ganz sicher ist, auf ein gutes Märchenende hoffen zu können oder sich für ein Ende mit Schrecken wappnen zu müssen. Siedelt sie die Geschichte auch vor 100 Jahren an, so sind doch die Konflikte der Figuren hochaktuell. Mabel und Jack sind der Inbegriff eines sich liebenden, aber auch ungleichen Paares. Sie die Tochter eines gelehrten Literaturprofessors, er der weniger gebildete Farmerssohn. Ihre Liebe lässt sie diese anfänglichen Hindernisse spielend überwinden, doch die Trauer um die fehlende eigene Familie scheint beide zu lähmen. Fehlende Kommunikation, ehrliches Ausdrücken von Wünschen und Ängsten erschwert ihnen beiden das Leben und verhindert Nähe, die sich beide sehnlichst wünschen. Das Schneemädchen bringt beide näher zusammen, dient als Katalysator, der Jack und Mabel aus ihrer Starre reißt. Für die Entwicklung der Figuren aber sind die Menschen in der Nachbarschaft essenziell. Die Freundschaft von George und Esther, die Hilfe des jüngsten Sohnes Garrett lassen die beiden ihr Leben aus einem neuen, heilsamen Blickwinkel betrachten. Die Einsicht in die Unabwendbarkeit von Ereignissen, Situationen, Zufällen, Jahreszeiten und dergleichen verleiht vor allem Mabel eine nie gekannte Stärke. Die Autorin entscheidet sich schließlich für ein bittersüßes Ende und behält konsequent wie gekonnt den Spagat zwischen Märchen und Realismus bei. Die Bilder des wilden und ungezähmten Alaskas bleiben noch lange nach der Lektüre im Kopf hängen und die Geschichten, die sie auch erzählen hätten können, spinnen sich dort wie von selbst weiter.