Mehr ein Liebesroman als ein historischer Roman

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Es passiert mir äußerst selten, dass ich von einem Buch stark überrascht werde, wenn mir zuvor der Klappentext und die Leseprobe zugesagt haben. Bei „Das verschlossene Zimmer“ von Rachel Givney war es jedoch leider genau so, was vor allem daran lag, dass der Klappentext nur wenig verrät und man nach Lektüre der Leseprobe nicht weiß, in welche Richtung sich das Werk weiter entwickelt. Ich bin mit einer gänzlich anderen Erwartungshaltung an das Buch herangegangen. Ich hatte mit etwas Medizinhistorischem gerechnet, und das vor dem Hintergrund der im Jahr 1939 beginnenden Kriegsereignisse. Stattdessen las ich über weite Strecken eine Liebesgeschichte, und das auch noch auf zwei Zeitebenen. Während 1939 Marie und Ben zueinander finden und die intelligent-naive (ja, das geht…) Marie für ihre Liebe zu Ben sogar zum Judentum konvertiert, finden zwischen 1918 und 1922 die armutsgefährdete, fleißig-umsichtige Helena und der Kriegsrückkehrer Dominik zueinander. Diese beiden Liebesgeschichten stehen im Zentrum des Buchs. Und der Schreibstil der Autorin ist durchaus gelungen, das Buch liest sich flüssig und Rachel Givney versteht es gut, beim Leser Neugier und Spannung zu wecken, man will stets wissen, wie es weitergeht, was an den vielen offenen Fragen liegt, die man als Leser mit sich herumträgt und die man beantwortet wissen will. Auch versteht es die Autorin, in unregelmäßigen Abständen mal erzähltechnische „Kniffe“ wie Vorausdeutungen oder Rückblenden als „Cliffhanger“ am Ende eines Kapitels einzustreuen, um Offenheit zu erzeugen und so zum Weiterlesen zu animieren. Ihr erzählerisches Handwerk versteht die Autorin also auf jeden Fall, daran gibt es nichts auszusetzen. Und wer sich mit Liebesgeschichten thematisch anfreunden kann, dem kann ich das Buch auch durchaus empfehlen. Ich glaube, wem z.B.“ Kinderklinik Weißensee“ von Antonia Blum gefallen hat, der wird auch an diesem Buch Freude haben. Aber für solche Freunde und Freundinnen historischer Romane, die gerne faktenreich in die Zeitgeschichte eintauchen möchten, ist dieses Buch nach meinem Dafürhalten eher nichts. Der historische Hintergrund spielt nämlich nur marginal eine Rolle. Anders als in anderen historischen Romanen (wie z.B. bei Ulf Schiewe) werden auch keine realen Persönlichkeiten in die Handlung einbezogen, mit denen die Figuren interagieren. Nein, um die Liebesgeschichten herum gruppieren sich stattdessen folgende Themen, die immer mal wieder gestreift werden: So geht es um die Konkurrenz zweier Ärzte, die um das Amt des Chefarztes miteinander konkurrieren. Einer von diesen beiden Ärzten, Wolanski, wird dabei ganz klar als Antisemit charakterisiert. Weiterhin geht es um Familiengeheimnisse. Marie will das Rätsel um ihre Mutter lösen, sie weiß nicht, wo diese abgeblieben und was aus ihr geworden ist. Und Maries Vater will ein Geheimnis bewahren und scheint etwas verbergen zu wollen. Ein weiteres Thema, das am Rande erwähnt wird, ist das des schwierigen sozialen Aufstiegs von Frauen im Arztberuf in Polen, und überhaupt die schwierige Rolle der Frau zur damaligen Zeit, v.a. was die Abhängigkeit vom Mann betrifft. Punktuell wird auch immer wieder der Antisemitismus in Krakau und in Lemberg vertieft. Und von dem, was sich zuträgt, ist man als Leser auch durchaus geschockt. Oft genug habe ich mit dem Kopf geschüttelt, es fällt schwer aus heutiger Sicht die Denk- und Verhaltensweisen von früher rational ergründen zu wollen. Es hätte aber an vielen Stellen nach meinem Geschmack ruhig noch mehr in die Tiefe gehen können, so wie es der Autorin beispielsweise gelungen ist, als sie das Lemberger Pogrom (1918) im Polnisch-Ukrainischen Krieg darstellt. Auch hätte ich es spannend gefunden, wenn Marie ihrem Vater häufiger bei der Ausübung ihres Arztberufes assistiert hätte (wie z.B. in Kap. 28). Ich empfand die Distanz zwischen Vater und Tochter doch als sehr groß, sie haben eindeutig ein Problem mit der offenen Kommunikation, was vielleicht ja auch zur damaligen Zeit passt.
Kleinere Abzüge gibt es auch für andere Dinge, über die ich beim Lesen gestolpert bin: Immer mal wieder gab es unrealistische Passagen (z.B. das Abschneiden von Marie bei der Aufnahmeprüfung, der zu perfekte Vater, die Schilderung eines Geburtsvorgangs und weitere Kleinigkeiten, die ich hier unerwähnt lasse, weil sie zu viel verraten würden). Die Auflösung am Ende hat mich überhaupt nicht überzeugen können. Auch fand ich einige wenige Figuren etwas überzeichnet, allem voran den Arzt Wolanski, teilweise auch den jungen Kollegen Johnny. Nicht zuletzt gab es auch Erzählstränge, die entweder nicht sinnvoll abgeschlossen wurden oder bei denen man sich fragte, ob sie wirklich nötig gewesen wären. So fand ich z.B. den Erzählstrang um Ruth Landau und ihren Sohn Daniel überflüssig. Und auch die Konkurrenz zwischen den beiden Ärzten findet nicht wirklich einen würdigen Abschluss, auch Johnny hätte es als Figur nicht unbedingt gebraucht. Es wäre also durchaus Potential vorhanden gewesen, die Handlung zu straffen. Nicht zuletzt hätte ich mir natürlich gewünscht, dass weniger Liebesgeschichten im Mittelpunkt gestanden hätten als vielmehr etwas Medizinhistorisches, für mich nehmen die Liebesgeschichten einfach zu viel Raum ein, dafür kam das Historische zu kurz.

Fazit: Ein Buch, das für mich mehr Liebesroman als historischer Roman ist, und das zudem einige Stolperstellen beim Lesen bereithält. Erzähltechnisch ist das Werk aber durchaus gelungen.