Wie viele Geheimnisse kann eine Familie ertragen?

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michelle.liest Avatar

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Cover:
Das Cover ist ansprechend, mysteriös und lässt eine spannende Geschichte vermuten. Bereits das Cover verrät, dass wir uns in einem historischen Setting befinden.

Meine Meinung:
Wir werden unmittelbar in die Handlung geworfen und erleben den inneren Konflikt von Marie Karska. Einerseits brennt sie darauf, mehr über sich und ihre Familie zu erfahren, andererseits will sie sich im Vater nicht widersetzen und sein Vertrauen missbrauchen. Marie als Protagonistin ist mutig, wissbegierig und loyal, aber auch leicht aus der Fassung zu bringen. Ihre Mutter hat sie früh verlassen und man spürt ihren Wunsch mehr über ihre eigenen Identität zu erfahren und sich weniger verloren fühlen. Diese hängt für sie mit ihrer Mutter und deren Verschwinden zusammen. Sie möchte ihren eigenen Weg gehen und ist sich der Konsequenzen oft nicht bewusst. Man kann ihr eine gewisse Naivität nicht absprechen, was mich an der ein oder anderen Stelle fassungslos und wütend gemacht hat. Wenn man sie allerdings als Frau im historischen Kontext sieht, macht ihr Verhalten an der ein oder anderen Stelle doch Sinn. Ihr werden viele Hürden in den Weg gestellt und sie lässt sich trotz allem nicht von ihrem Weg abbringen. So geht sie auch mit ihren Mitmenschen und vor allem ihrer Jugendliebe Ben um. Ben ist Jude, was 1939 natürlich ein Problem ist. Marie ist dies aber schlicht egal, was ich sehr gut finde. Das hat sie mir nur noch sympathischer gemacht. Auch der Einblick in das Judentum und die Bräuche gefällt mir sehr gut, allerdings kann ich nicht beurteilen ob das alles korrekt ist.

Maries Vater Dominik Karski ist Arzt und Forscher und hat seine Wissbegierde an seine Tochter weitergegeben. Die Einblicke in die Medizin die wir erhalten, gefallen mir sehr gut und sind sehr spannend, da es natürlich nicht unserem heutigen Medizinischen Standard entspricht. Er ist Marie gegenüber sehr fürsorglich und versucht sie zu beschützen. Dabei entgeht ihm, dass er Marie manchmal einengt und ihr ihre Freiheit nimmt. Leider legt er ihr gegenüber auch ein Verhalten an den Tag das ich nur als widerlich und verwerflich bezeichnen kann. Man kann Dominik sicher als Eigenbrötler beschreiben. Er hält sich so gut es geht von anderen Menschen fern und hat keine Freunde oder Bekanntschaften. Er wirkt an der ein oder anderen Stelle einsam. Er wirkt auch leider oft Rückgratlos. Dominik beugt sich dem System und der Gesellschaft und bezieht selten Stellung oder äußert seine Meinung.

Ich möchte auch die Nebencharaktere nicht unerwähnt lassen. Manche haben mir einen Schauer über den Rücken gejagt. Aber besonders zwei habe ich ins Herz geschlossen. Zum einen haben wir Rabbi Katz der ein herzlicher, älterer Mann ist den ich einfach gerne in den Arm genommen hätte. Zum anderen haben wir Jan Grüner, ein Kollege von Dominik. Er wirkt zu Beginn wie ein Angeber und Aufschneider, aber dieses Bild wandelt sich sehr schnell. Er hat viele Probleme und man kann wirklich mit ihm mitfühlen. Ben ist leider etwas farblos als Charakter. Das ist sehr schade, vor allem wenn man seine Rolle bedenkt.

Relativ schnell merkt man, dass mit dieser Familie und Dominik im Speziellen etwas nicht stimmt. Auch durch seine Abschottung wirkt er sehr geheimnisvoll und als hätte er etwas zu verbergen. Man weiß nie an was man bei ihm ist. Der Antisemitismus dem wir hier in der Geschichte begegnen war für mich nur schwer zu ertragen. Leider ist das zeitgemäß für die Zeit in der wir uns befinden. Trotzdem war ich mehr als einmal schockiert, was die Menschen damals und auch leider heute noch teilweise ertragen müssen. Wir haben in der Geschichte aber auch Menschen, die sich klar gegen Hitler positionieren, was natürlich nicht einfach war, aber das hat mir sehr gut gefallen.

Der Schreibstil ist über das ganze Buch hinweg ein wenig poetisch und ich habe viele Sätze markiert, die mich beeindruckt haben. Wir erleben die Geschichte aus der Sicht eines personalen Erzählers. Damit sind wir immer nah an den Figuren, kennen aber auch nur deren aktuelle Sicht, was der Geschichte Spannung verleiht.
Die Kapitelübersichten haben immer etwas mit den Geschehnissen im Kapitel zu tun. Der Schreibstil fängt auch die Stimmung sehr gut ein und ist wunderschön beschreibend. Man fühlt den Schmerz der Charaktere genauso wie ihre Freude was uns ihnen sehr nahe bringt.

Für mich war diese Geschichte deshalb so schwierig, weil man aus der heutigen Sicht den Verlauf der Geschichte kennt und den Figuren zu rufen will: "Lauft, geht so weit weg wir ihr könnt!" Ich habe gelacht, geweint und war traurig. Außerdem hat es mich wütend gemacht wie die ein oder andere Nebenfigur mit Marie umgegangen ist. Frauen waren in dieser Zeit hübsches Beiwerk eines Mannes aber man traut ihnen nichts zu. Dass sie eventuell genauso klug oder sogar klüger als Männer sind, war schlicht unvorstellbar. Für die Männer. Man spürt über die gesamte Geschichte hinweg eine gewisse Frauenfeindlichkeit.

Leider hat mich die Auflösung nicht überzeugen können. Sie hat mich überrascht, ja. Aber irgendwie habe ich es nicht "gefühlt". Ich bin mir auch nicht sicher, wie realistisch die Auflösung ist.