Dieses Buch muss man nicht lieben. Man muss es lesen. Oder als Hörbuch hören.

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kleine hexe Avatar

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Vor dem Gesetz sind wir alle gleich. Was aber wenn nicht? Darf ein herausragender Künstler oder Arzt oder Wissenschaftler oder Spitzenpolitiker die Normen der menschlichen Gesellschaft übertreten? Darf er, weil er Hervorragendes geleistet hat, anderen Menschen Schaden zufügen und ungestraft davon kommen? Gibt es den sogenannten „Urlaub von der Ethik“? Ich weiß es nicht tendiere aber eher zu sagen, das Gesetz darf keine Ausnahmen machen.
Hanya Yanagiharas Werk ist ein Ausnahmebuch. Es ist zutiefst aufwühlend, vielleicht auch eben weil es in einem kalten, knappen Stil geschrieben wurde. Erst nachdem man das soeben Gelesene richtig verinnerlicht hat, geht einem auf, was da eigentlich so unpersönlich wie in einem Forschungsbericht dargestellt wurde. Man möchte von Anfang an Norton Pereira von der Insel verbannen. Schon wie er beschreibt dass Eva, das Untersuchungsobjekt die gynäkologische Untersuchung verweigert, als ob sie kein Mensch, keine Frau wäre, hätte ich ihm am liebsten Einhalt geboten. Oder mit welchem Recht werden Untersuchungsobjekte (man lese bitte „Menschen“) aus ihrer Umgebung herausgerissen und in einem Laborkeller jahrelang heimlich festgehalten, nur bei Nacht und unter Bewachung auf dem Campusgelände kurz Gassi geführt. Wer dies versteht und damit einverstanden ist, der ist auch mi den Experimenten des Dr. Josef Mengele einverstanden. Kann ein Mensch noch mehr Schuld auf sich laden? Ja, er kann. Er zerstört ein kleines Steinzeitvolk in seiner Gesamtheit, zerstört eine Insel mit endemischer Pflanzen- und Tierwelt, heimst den Nobelpreis ein, sozusagen als Belohnung für seine Errungenschaften. Kann ein Mensch noch mehr Schuld auf sich laden? Ja, er kann. Er adoptiert Kinder von der Insel, angeblich weil die Inselbevölkerung sie ihm aufdrängt wegen der großen Armut. Er bringt sie zu sich in die USA, gibt ihnen ein zu Hause, ernährt und kleidet sie, ermöglicht ihnen Schulbildung, gleich 43 Kinder. Die Belohnung für seine gute Tat holt er sich selber. Von jedem einzelnen Kind. Er missbraucht und vergewaltigt sie. Er gönnt sich ja sonst nichts. Und er ist erstaunt wieso die Kinder und sogar sein eigener Zwillingsbruder sich gegen ihn stellen, gegen ihn aussagen.
Was das Buch auch sehr spannend zu lesen/hören macht, ist der Aufbau des Romans. Wir haben einerseits die Aufzeichnungen des Dr. Perina aus dem Gefängnis, sozusagen seine Memoiren durch seine Erinnerungen teilweise verklärt, und andererseits die Fußnoten seines Assistenten und Freundes Dr. Ronald Kubodera die vielfach in das Buch eingreifen, das von Perina Gesagte betonen, erklären, in manchen Fällen abschwächen oder schlicht und einfach unterschlagen.
Wie gesagt. Man muss dieses Buch nicht mögen. Man muss es lesen oder hören, es auf sich einwirken lassen, man muss sich mit dem Thema auseinandersetzen und seine eigenen Schlüsse daraus ziehen.