Vielschichtiger, tiefgründiger und anspruchsvoller Roman in (auto)biographischem Stil

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annajo Avatar

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Norton Perina ist noch ein sehr junger Arzt, als er 1950 das erste Mal den Anthropologen Paul Tallent auf die abgelegene mikronesische Insel Ivu'ivu begleiten darf. Sie lernen die Bräuche der U'ivuaner kennen, die mitunter nicht mit den westlichen Vorstellungen von Moral vereinbar sind. Doch bald entdecken sie noch mehr. Es gehen Geschichten um von sonderbaren Menschen und schon bald begegnen die Forscher eben jenen: sie scheinen unnatürlich alt und dabei in guter körperlicher Verfassung zu sein. Geistig scheinen sie jedoch massiv abgebaut zu haben. Schließlich findet Norton die Lösung zum hohen Alter und hat somit scheinbar den Schlüssel zum ewigen Leben gefunden. Mit der Publikation der Ergebnisse ist der Weg zum Nobelpreis geebnet. Doch je bekannter Norton und seine Ergebnisse werden, desto besiegelter ist das Schicksal der Insel.
Fünfundvierzig Jahre später wird der inzwischen 71-Jährige, der mittlerweile 43 Kinder aus Ivu'Ivu adoptiert hat, wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern verhaftet ...

Ich kenne das andere Buch der Autorin bislang nicht, daher kann ich hier keinen Vergleich dazu ziehen, was vielleicht auch ganz gut ist. In "Das Volk der Bäume" werden das Leben eines Wissenschaftlers aber auch die Eigenheiten eines ganzen Volkes sehr detailliert und mitunter kleinteilig erzählt. Da es stilistisch an Biographien angelehnt ist, enthält es die ein oder andere, durchaus lange, Fußnote und der Erzählstil ist manchmal etwas trocken. Lange sind keine direkten Bezüge zur Handlung aus dem Prolog erkennbar, doch die ergeben sich nach und nach, auch wenn man zwischenzeitlich über die ein oder andere Länge hinwegsehen muss. Das Ende hat mich dann jedoch ziemlich schockiert und mit den Schwächen des Buches komplett versöhnt, da es sich als ziemlich geniale Konstruktion erweist. Das Buch ist zwischenzeitlich auch deswegen schwer zu ertragen, da es entweder aus der Sicht Perinas, einem selbstverliebten, kalten und arroganten Mann, oder aus der Sicht des ihn vergötternden Mitarbeiters erzählt wird. Der Wert des Buches liegt dabei vor allem in den zahllosen Denkanstößen, über die man lange reflektieren und diskutieren kann und die nicht nur Perinas sexuelle Neigung thematisieren, sondern noch viele andere Aspekte, wie beispielsweise die Ausbeutung bis dato nahezu isoliert lebender Völker und die Frage nach dem richtigen Umgang mit Genies, die unsere Moralvorstellungen verletzen. Dabei legt die Autorin ihrem Roman eine wahre Geschichte aus dem Wissenschaftsbetrieb zugrunde. Doch wer hätte gedacht, dass dieser schon ältere Debütroman nichts an Aktualität verlieren wird (wenn wir beispielsweise den Fall Michael Jackson und die jüngste Enthüllungsdokumentation betrachten)?

Da ich mich sehr für Wissenschaftsromane begeistern kann, hat mich dieses Buch trotz seiner mitunter etwas ermüdenden Ausschweifigkeit fast durchweg gefesselt, es hat mich sprachlich überzeugt und vor allem in seiner Konstruktion begeistert. Das Buch ist vielschichtig und hinterfragt den Geniekult, der Menschen mit herausragenden Leistungen in irgendeinem Bereich quasi unantastbar macht, selbst bei vermuteten schlimmsten moralischen Verfehlungen. Aber es fragt auch, wie viel wir im Namen der Wissenschaft dürfen und welche Verantwortung Wissenschaftler für ihre Untersuchungsobjekte tragen. Mich hat dieses Buch komplett abgeholt und sehr begeistert. Es ist anspruchsvoll und regt zum Nachdenken an und ist keines der Bücher, das man Tage später schon wieder vergessen hat.

Die Hörbuchversion fand ich sehr gelungen umgesetzt. Die Stimme des Erzählers war sehr angenehm und ich konnte ihr gut folgen. Der Wechsel der Stimmen für die verschiedenen Erzählebenen hat das Ganze noch etwas dynamischer gemacht und auch die Fußnoten waren gut erkennbar und verständlich.