Meisterin des Abstandhaltens

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signalhill Avatar

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Julia Schochs "Das Vorkommnis" ist ein Roman, vielleicht auch eine psychische Selbststudie der Protagonistin, geschrieben in hoher sprachlicher Dichte und einem sehr eigenen, ausgefeilten Sprachstil. Schoch gelingt, was nur wenigen Autoren gelingt; sie schreibt hier einen Gegenwartsroman, der sich weit nach oben von den anderen abhebt.

Dabei spielt in diesem Roman die Distanz in vielen Hinsichten eine so große Rolle, dass es für den Leser und die Leserin erst einmal befremdlich wirkt. Doch wenn man das Fremde, die Distanz der Protagonistin zur eigenen Familie ("die Kinder", eine Familie, die sie nicht "mein" nennen möchte, die scheinbare Freude am "Abnabeln" des Kindes) erst einmal so akzeptiert hat, dann passt der Sprachstil perfekt zum Inhalt. z.B. auch, als der Vater von der Affäre erzählt, die Autorin dieses Ereignis aber eher als MItteilung einstreut.

Nun möchte man gern verstehen, warum die eine Tochter, die die Protagonistin gar nicht kennt, eine Umarmung bekommt und damit mehr also ihre eigene Schwester vielleicht je bekommen hat. Die Ursache sehe ich in den Familienstrukturen der 60er, 70er und auch noch 80er Jahre, wo diese Distanz in vielen Familien gelebt wurde. Auch das Schweigen gehörte dazu.

Ich denke daher, "Das Vorkommnis" ist eher für etwas ältere Leser und Leserinnen passend, die sich in das Gefühl der Zeit noch hineinversetzen können, die vielleicht selbst eine solche Distanz leben. Ich fühle mich angesprochen von diesem Buch und diesem Schreibstil und möchte "Das Vorkommnis" gern vorab lesen.