Familiengeheimnissen auf der Spur

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roomwithabook Avatar

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„Wir haben übrigens denselben Vater.“ Mit diesen Worten wendet sich eine fremde Frau an die Protagonistin, die nach einer Lesung gerade ihr Buch signiert. Dieses Vorkommnis, wie es im weiteren Text genannt wird, löst eine Reihe von Veränderungen aus, obwohl es vorerst bei dieser einen Begegnung bleibt. Es ist auch nicht so, dass die Protagonistin nichts von einer weiteren Tochter ihres Vaters wusste, und ihr war auch immer klar, dass diese irgendwann auftauchen würde. Trotzdem stößt diese Begegnung etwas in ihr an, sie reflektiert ihr Leben, ihre Beziehung (sowohl die zu ihrem Mann als auch die zu den Eltern und ihrer „richtigen“ Schwester), ihre Rolle als Mutter und ihre Kindheit in der DDR. Der Roman, untertitelt als „Biographie einer Frau“ und Auftakt einer Trilogie, folgt den Gedanken der Erzählerin, er liest sich als Bewusstseinsstrom und reflektiert doch aufs Genaueste, was ein Leben ausmacht und welchen unbewussten Einfluss Familiengeheimnisse haben können. Die Erzählerin spürt den Verschiebungen nach, deren Auslöser in ihrer Kindheit liegt und die auch ihre Beziehung zu ihren Eltern und ihrer Schwester beeinflusst haben. Ein mehrmonatiger Arbeitsaufenthalt in einer kleinen US-amerikanischen Universitätsstadt sorgt dazu für den nötigen Abstand und einen geweiteten Blick, um das eigene Leben klarer erkennen zu können. Julia Schock besitzt eine feine Beobachtungsgabe und einen großartigen Sinn für Humor (die Kakerlake im Bad!), ihre Sprache ist klar und genau, sie legt damit die unterschiedlichen Schichten und Verbindungen frei, die eine Familie ausmachen. Ich habe diesen Roman sehr gern gelesen und kann ihn allen empfehlen, die autofiktionales Erzählen mit einem Fokus auf reflektierendem Beobachten mögen.

„Es ist leicht, über etwas nicht zu reden. Zu glauben, dass die Dinge ihre bedrohliche Kraft verlieren, wenn man nicht darüber spricht. Zu hoffen, dass alles schwächer und blasser wird, je mehr Zeit vergeht. Mit einem gewissen Talent zur Verdrängung lassen sich bestimmte Angelegenheiten über Jahre hinweg verscheuchen.“