Fiktion einer Verwirrung

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amara5 Avatar

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Julia Schoch beginnt mit „Das Vorkommnis“ einen herausragenden und sehr klug komponierten Auftakt der Trilogie „Biografie einer Frau“, in der die autofiktionale Ich-Erzählerin und Autorin anhand einem verwirrenden Vorkommnis tief in ihre Erinnerungen, Wahrheiten und das zarte Geflecht ihrer Familie eintaucht.

Bei einer Lesung kommt eine Frau auf sie zu und gibt zu verstehen, dass sie ihre Halbschwester ist – sie haben den gleichen Vater! Ein Familiengeheimnis, das eigentlich keins ist, denn schon lange ist das Dasein der zur Adoption freigegebenen Schattenschwester bekannt, aber das persönliche Treffen bringt die Autorin in einen Strudel der allgemeinen und tiefen Verwirrung, den sie gedanklich zu ordnen versucht. Assoziativ, philosophisch und intim geht sie auf Spurensuche in ihren zerbrechlichen Erinnerungen und bringt die vorbestimmte Geometrie einer Familie in ihren Gedanken erheblich zum Wanken. Wer sind ihre Eltern und ihre 'richtige' Schwester? Ist ihr Ehemann derjenige, den er vorgibt oder eine Täuschung? Was macht eine Ehe und eine Mutterschaft aus und kann man die Erinnerungen und Familiengeschichte umschreiben?

Achronologisch verwebt Julia Schoch hierbei Ereignisse aus der Gegenwart der Autorin wie ihr Auslandaufenthalt in den USA, wo sie an einer Universität Vorlesungen zum Deutsch-deutschen Literaturstreit hält, mit Reflexionen zu ihrer Vergangenheit. Sie sinniert und entwirft neue Gedankenkonstrukte zu ihren Eltern, dem Aufwachsen in einem Provinzort der DDR sowie dem Da-Sein als Mutter und Ehefrau. Und sie geht noch weiter – gehemmt durch eine Schreibblockade taucht sie immer tiefer ein in das, was wir unsere feste Vergangenheit nennen und wie sie anhand des Schreibens eventuell umgeformt werden kann. Währenddessen liegt ihr Vater in Deutschland im Sterben, die Mutter kümmert sich um die kleinen Kinder in den USA, der Mann kommt zu Besuch und argwöhnisch sucht die Erzählerin ihm auf die Schliche zu kommen – könnte auch er anderswo Kinder gezeugt haben? Warum hat eine Familie diese festen Strukturen und unsichtbaren Geflechte?

Vielschichtig, mit einer sprachlichen Stilsicherheit und klaren Poesie sowie sehr präzis-dichten Gedankengängen entführt Schoch den Leser in sein eigenes Lebenskonstrukt, in seine privaten Vorkommnisse und Katastrophen und stellt philosophische Fragen, ohne jemals pathetisch-rührselig zu wirken oder den Ball zur Geschichte zu verlieren. Subtil und virtuos spinnt sie einen literarisch brillanten Faden, der in die gedanklichen Geäste und Rückblicke der Erzählerin führt, in ihre Lebenslinien zwischen Wahrheit und Verwirrung und am Ende ein kluges Bild über gesellschaftliche Zusammenhänge präsentiert.

„Mir scheint, ich bin nach all den Jahren einer Erklärung auf der Spur, einem Zusammenhang zwischen Dingen, die auf den ersten Blick nicht miteinander verbindet. Dieser Zusammenhang lässt sich nicht logisch begründen. Ich versuche, ihn schreibend herzustellen. Schreiben bedeutet, Einzelteile aufeinander zufliegen zu lassen, damit sie sich zusammenschieben und in der richtigen Weise überlagern, wie bei einem 3D-Puzzle, das plötzlich einen Körper im Raum gibt.“ S. 90