Literarische Annäherung an eine totale Verunsicherung (sehr gut, aber düster)

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thirteentwoseven Avatar

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Sich dem Buch "das Vorkommnis" von Julia Schoch zu nähern, ist schwierig. Bei der Beurteilung bin ich hin- und hergerissen, denn Gewissheiten gibt es in dem Buch eigentlich keine und alleine das hinzubekommen, ist schon eine Kunst.

Autorin und Protagonistin sind eine Person. Man erkennt die Autorin eindeutig als Ich-Erzählerin, was von ihren Schilderungen und Einblicken jedoch wahr ist und was Fiktion, ist nicht eindeutig zuzuordnen. Das bleibt offen bis zum Schluß. "Aber das war doch nur Fiktion, rief ich. Rief ich wirklich?" (S. 191) .
In dem Roman befindet sich die Erzählerin in einer Phase tiefer Depression, in einem "schwarzen Loch", so dass sie sogar einen Neurologen konsultieren muss. Auslöser dafür ist "das Vorkommnis", das Zusammentreffen mit einer bisher nicht näher bekannten, eventuellen Halbschwester. Ihr Auftreten wirft bei der Autorin viele persönliche und existenielle Fragen auf - bis hin zu der Frage, in wie weit kennen wir jemand wirklich. Kennen wir die (ganze) Wahrheit? Und ist das überhaupt möglich?
Gewissenheiten, ja sogar die ganze Lebenswelt der Erzählerin waren mit dem Untergang der DDR bereits eingestürzt. Alle bisherigen Strukturen, Familie und Umwelt, erwiesen sich als unzuverlässig, nicht wirklich tragfähig, verlogen und verachtenswert. "War selbst diese Brieffreundschaft (zu einer sowjetischen Schülerin in der Kindheit) vielleicht nur ein heimtückischer Betrug, eine Hinterlist, wie so vieles in der Vergangenheit, an das ich viel zu lange in aller Unschuld geglaubt hatte?" (S. 42) Sogar dem eigenen Erinnerungsvermögen kann die Erzählerin nicht trauen. War die Umarmung mit der Halbschwester wirklich passiert oder nur ein Konstrukt der Fantasie? Was folgt ist eine Phase der totalen Verunsicherung. Meint er/sie das wirklich? Was steckt dahinter? Werde ich gestalked, ausgespitzelt oder manipuliert? Die Erzählerin entwickelt eine Paranoia und tiefe Depression.

Die Erzählerin bleibt immer auf Distanz zu sich, zu anderen, zum Leser. Sie redet nie von "ihren" Kindern und schon gar nicht namentlich. Es gibt lediglich das ältere und das jüngere Kind. Türen werden immer wieder zugeschlagen. (Familien)konstellationen aufgestellt und umgehauen. Gemachte Aussagen und Gefühle immer wieder in Frage gestellt. In der Zeit wird vor- und zurückgegriffen, Sprünge gemacht. In den Roman fließt viel psychologisches,literaturwissenschaftliches und zeitgeschichtliches Wissen und Geschehen ein. Er ist wirklich meisterlich "komponiert".

"Das Vorkommnis" ist Band 1 einer Triologie über das Leben einer Frau. Das
Titelbild von der ostdeutschen KünstlerinTina Berning passt hervorragend zum Inhalt.

Fazit:
Der Roman hat mich an vielen Stellen tief beeindruckt, zugleich aber auch an anderen Stellen genauso abgestossen. Die allumfassende Verunsicherung der Erzählerin war mir zu düster und befremdlich. Die Aufbereitung des Themas jedoch einmalig.
Dies Buch ist auf keinen Fall etwas für den "Normalo-Leser", der nur mal kurz abspannen will. Hier lässt man sich auf ein dunkles und gut konstruiertes Spiel mit Literatur und Wirklichkeit ein.