Reflexionen und Erinnerungen

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leukam Avatar

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Bei einer Lesung kommt auf die Ich- Erzählerin eine fremde Frau zu, mit der Bitte, ein Buch zu signieren und der Bemerkung: „ Wir haben übrigens denselben Vater.“
Dieses titelgebende Vorkommnis steht am Anfang des neuen autofiktionalen Buchs der deutschen Autorin Julia Schoch. Und dieser Zwischenfall ist Auslöser für vielfältige Reflexionen und Erinnerungen.
Mehrfach rekapituliert die Ich- Erzählerin dieses Zusammentreffen , analysiert auch ihr damaliges Verhalten (Sie fiel der fremden Frau um den Hals.)
Hatte sie nicht immer schon geahnt, dass es irgendwann zu einer solchen Begegnung kommen würde? Denn gewusst hatte sie von der Existenz eines Kindes, das ihr Vater vor seiner Ehe gezeugt hatte.
Sie beginnt ihre Kindheit in einem Provinzort an der DDR- Randzone zusammen mit ihren Eltern und einer sechs Jahre älteren Schwester in neuem Licht zu sehen. Die geometrische Form ihrer Familie wurde durch das Auftauchen eines neuen Mitglieds beschädigt. „ Bislang hatte die Familie, aus der ich kam, einem Quadrat geglichen….Einem recht großen Quadrat, die Ecken weit voneinander entfernt, aber noch in Sichtweite….Erst mit ihr, der fremden Frau, verschwand das Bild eines stabilen Quadrates. …wurde aus der sauberen geometrischen Form ein struppiges Gewächs.“
Beim Rekapitulieren der frühen Kinderjahre entsteht so gleichsam ein Bild vom Aufwachsen in der DDR.
Auch bei ihrem Aufenthalt in den USA Wochen später lässt die Ich- Erzählerin die Geschichte nicht los. Hierher ist sie gereist auf Einladung einer Universität, um Vorlesungen zu halten. Mit dabei sind die beiden kleinen Kinder der Autorin und ihre Mutter. Mit der führt sie Gespräche über früher, über das Leben der Mutter als junge Frau, über Kindererziehung damals und heute.
Sogar das Verhältnis zu ihrem Mann leidet unter dem „ Vorkommniss“. Gibt es auch in ihrer Beziehung Geheimnisse, Dinge, die verschwiegen werden? Wen kennt man wirklich und wem kann man vertrauen? Fragen, die Misstrauen und Zweifel wecken. „Auch die Beziehung zu meinem Mann, die mir bis dahin als die größte Liebesgeschichte des späten 20. Jahrhunderts erschienen war, bekam Risse - allein dadurch, dass ich über sie nachdachte.“
Julia Schoch geht in ihrem unglaublich dichten Text assoziativ vor und erzählt in kurzen Kapiteln. Die Sprache ist präzise und klar; dabei findet sie immer wieder beeindruckende Bilder und Vergleiche. Gekonnt verzahnt sie eigene Erlebnisse, Familiengeschichte und Erinnerungen mit Reflexionen und sucht Antworten auf existenzielle Fragen. Mit Themen wie Ehe und Muttersein, Kindheit und Geschwisterbeziehungen, Vertrauen und Liebe setzt sie sich auseinander. Dabei holt sie sich öfter Hilfe in der Literatur.
Gerne bin ich ihren Ausführungen gefolgt, wenn auch nicht jeder Gedankengang gleich nachvollziehbar war; habe manche kluge Sequenz unterstrichen.
Liebhaber anspruchsvoller Literatur werden ihre Freude an diesem zwar handlungsarmen, aber klugen Roman haben. Viele Sätze lassen den Leser innehalten und nachdenken. Sätze wie diese: „Wenn in unserem Rücken etwas Unerwartetes sichtbar wird, ist das beunruhigend. Genauso ist es mit den Dingen, die hinter uns liegen. Wir wollen nicht, dass aus dem Nebel der Vergangenheit etwas auftaucht, das uns dazu zwingt, umzudrehen. Wir wollen nicht rückblickend alles revidieren müssen. Lieber verteidigen wir unsere Vergangenheit.“
„ Das Vorkommnis“ ist, wie uns der Klappentext verrät, der Auftakt einer Trilogie „ Biografie einer Frau“. Man darf gespannt sein auf die nächsten beiden Bände.