Welche Geschichten erzählen wir uns über unsere Familie?

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jelka Avatar

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In dieser autofiktionalen Erzählung setzt sich die Erzählerin, eine Schriftstellerin, mit Adoption, Familiengeheimnissen, und der Kontinuität ihrer Familienbiografie vor dem Hintergrund der deutsch-deutschen Geschichte auseinander. Dabei lenkt sie in bemerkenswerter Weise den Blick auf Korrekturen und blinde Flecken in der eigenen Biografie, und hinterfragt sicher geglaubte Tatsachen in den Beziehungen zu ihrer Familie.

Auslöser für diese Auseinandersetzung ist das titelgebende „Vorkommnis“. Die namenlose Ich-Erzählerin wird auf einer Lesereise von einer ihr unbekannten Frau angesprochen; sie sei ihre Halbschwester väterlicherseits und vor der Geburt der Erzählerin selbst zur Adoption freigegeben worden. An diesem Punkt setzt eine puzzleartige Recherche in die Familiengeschichte ein, bei der sie nicht nur im schreibenden Sinne, sondern auch räumlich einen Schritt zurücktritt und die familiären Beziehungen unter die Lupe nimmt.

Wie spricht man in Familien über Glück, Angst, Beziehungsgeflechte, Erinnerungen, wenn es unzählige in Schubladen versteckte „Vorgeschichten“ gibt? Können wir uns dennoch auf Familienerzählungen verlassen? Und wichtiger: Wer sind wir wirklich, welche "Negativabdrücke", wie bei einem Fotonegativ, haben diese Geheimnisse im eigenen Leben hinterlassen?

Spannende Themen, die viel aufrühren und in einer fast sachlichen, jedoch niemals der Illusion von Kontrolle erliegenden Prosa erarbeitet werden. Das Leben mit seinen Alltagsdramen geht weiter, während sich die Introspektion unerbittlich ihren Raum sucht. Man spürt förmlich, wie die Erzählerin versucht, sich diesen Raum zu nehmen und den Alltag, zeitweise ist sie als Dozentin an einer amerikanischen Universität beschäftigt, auszublenden und sich zu entfernen, um ihrer eigenen Geschichte näherzukommen. Als schreibende Frau mit zwei kleinen Kindern wird das auch zur praktischen Herausforderung. Mit ihrer sie begleitenden Mutter beginnt sie Gespräche über die Vergangenheit, merkt aber, dass das nicht geht ohne weitere Fragen aufzuwerfen.

Für meinen Geschmack ging der Versuch des "Zurücktretens" vom untersuchten Objekt fast ein bischen zu weit. Es fiel mir schwer, emotional dran zu bleiben. Man spürt selbst in der Sprache die Distanz, um die sich die Erzählerin so sehr bemüht. Andererseits: Vielleicht braucht es eine gewisse Distanz für diese Art von persönlicher, sich auseinandersetzender Literatur?

Insgesamt ein spannender Text, besonders für Fans von autofiktionaler Literatur, der Stil erinnert mich ein bischen an Rachel Cusk und Deborah Levy.