Seid laut!

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Zu der Zeit als ein Teil meines Elternseins noch darin bestand, die Kinder täglich durch die Gegend zu chauffieren, erinnere ich mich an ein Gespräch auf dem Rücksitz. Mein Sohn und sein Freund unterhielten sich darüber, was sie später einmal werden wollten. Beide waren damals erst in der vierten Klasse, hatten aber schon ziemlich genaue Vorstellungen von ihrer Zukunft. Es lief vor allem darauf hinaus, dass der einmal gewählte Beruf genügend Geld einbringen sollte, um ein gutes Leben davon finanzieren zu können. Auto, Haus, Urlaub. Alle wurde berücksichtigt. Ich weiß noch, das ich damals dachte, wie abgeklärt und vernünftig die Kinder seien. Keine verrückten Träume, keinen heldenhaften Ziele, keine umwälzenden Ideale.

Beim Lesen von „Das weibliche Prinzip“ ist mir dieser Dialog wieder eingefallen, weil die Heldin in Meg Wollitzers Roman ganz anders ist. Greer Kadetzky will etwas sinnvolles tun. Nicht einfach nur Geld verdienen oder ein gutes Leben haben. Ungerechtigkeit anprangern, für Ihre Überzeugungen einstehen, gegen Ungleichheit und Unfreiheit kämpfen. Für sich, für Frauen und für Faith Frank.

Anhand der Beziehung zwischen der jungen Studentin Greer und der bekannten Frauenrechtlerin Frank entrollt Wollitzer die Geschichte eines Landes. Ihr Roman umfasst die Jahre 2010 bis etwa 2019. Heruntergebrochen auf einzelne Schicksale erzählt sie akribisch vom Freudentaumel der „Obama Jahre“ bis zum aktuellen Alptraum.

Wer sind wir? Und was wollen wir sein? Es sind existenzielle Fragen, die Meg Wollitzer in Ihrem Roman „Das weibliche Prinzip“ umtreiben. Wollitzer ist eine akribische Autorin. Jede Regung, jeder Winkel des Charakters ihrer Figuren wird ausgeleuchtet. Mag er noch so klein und unbedeutend erscheinen. Bis ins letzte Detail verfolgt Sie ihre Handlungen, Gedanken, Träume, Ziele und Überzeugungen. Und nimmt den Leser mit auf eine Reise ins Innere der Figuren und in den Herzschlag einer Gesellschaft.

Das war es auch, was mich am meisten berührt hat. Es sind nicht wenige Schicksalsschläge, die Wollitzer ihren Figuren zumutet. Enttäuschungen, Verrat, Intrigen, Missbrauch und Tod sind nur einige davon. Aber in allem und über allem steht die Mitmenschlichkeit. Die sich in Feminismus manifestieren kann, aber nicht muss. Mitmenschlichkeit die verzeiht, die hilft, die versteht. Die das ist, wenn man sie braucht. Die auch Jahre sträflicher Vernachlässigung überdauert. Die Schuld vergibt und Trauer mildert.

„Das weibliche Prinzip“ ist kein Buch über Emanzipation, auch wenn davon stets die Rede ist. Es ist ein Buch über Freiheit. Freiheit und die Würde des Menschen. Jedes Menschen. Und es ist ein Buch über den Sinn des Lebens. Jedes Lebens.

„Am Ende“ schreibt Wollitzer „verliert man Macht und Kraft. Man strengt sich an und versucht möglichst viel zu erreichen, bis einem schließlich die Puste ausgeht“. Das wunderbare an Wollitzers Buch ist, das dort immer jemand ist, der noch Puste hat. Und denjenigen beatmen kann, dem diese ausgegangen ist. Was für ein herrliches Prinzip!