Familie ist eine schädliche Einrichtung

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buecherfan.wit Avatar

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In Tracy Barones Debütroman mit dem albernen deutschen Titel “Das wilde Leben der Cheri Matzner“ geht es um den Radiologen Solomon Matzner und seine italienische Frau Cici, die einen Säugling adoptieren, kurz nachdem die hochschwangere Cici eine Fehlgeburt und eine Operation erlebt hat, die ihrem Kinderwunsch ein Ende setzen. Das Baby wird zu Beginn des Romans von seiner sehr jungen Mutter im Krankenhaus zurückgelassen. Zeuge dieser Szene ist der Schüler Billy Beal, der dort Sozialstunden ableisten muss und seine Mutter überredet, das Baby als Pflegekind aufzunehmen.
Die Geschichte der Cheri Matzner wird auf zwei Zeitebenen erzählt, 1962 - dem Jahr ihrer Geburt – und 2002. Cheris Verhältnis zu den Adoptiveltern ist sehr gespannt. Die Mutter erstickt sie mit ihrer erdrückenden Liebe, der Vater ist äußerst distanziert, u.a. weil die Adoption sich sehr nachteilig auf die Ehe ausgewirkt hat. Nach den frühen Jahren, in denen Cheri alles versucht, ihre Eltern zu provozieren, z.B. mit Drogenkonsum, gefährlichem Umgang und unzähligen Piercings, hat sie in den mittleren Lebensjahren berufliche und private Probleme. Nach dem unrühmlichen Ausscheiden aus dem Polizeidienst wird sie auch in ihrer akademischen Karriere ausgebremst. Nach dem Tod ihres Mannes Michael muss sie einen Neuanfang wagen und sich mit den losen Enden in ihrem Leben auseinandersetzen, unter denen ihre Adoption nicht das geringste Problem ist. Michaels Vermächtnis sind Informationen eines von ihm engagierten Privatdetektivs über ihre Herkunft. Sie sollen Cheri helfen, endlich ihren Frieden mit ihren Adoptiveltern zu machen und sich selbst zu akzeptieren. Die Autorin schildert diesen Reifungsprozess überzeugend, der die Protagonistin zu einer gewissen Gelassenheit und Demut bringt angesichts der zugleich schrecklichen und schönen Erfahrung, am Leben zu sein.
Der sehr detailfreudige Erzählstil der Autorin führt zu einigen Längen, die die Lektüre mühsam machen. Schon im ersten Teil fragt sich der Leser, warum die Situation der Familie Beal mit dem cholerischen, gewaltbereiten Vater und Ehemann derartig ausführlich ausgebreitet wird. Sie spielt im weiteren Verlauf bis fast zum Schluss keine Rolle, außer dass sie ein weiteres Beispiel für eine dysfunktionale Familie darstellt. Der Originaltitel “Happy Family“ kann nur ironisch verstanden werden, denn glücklich sind die Paare in diesem Roman - wenn überhaupt - nur vorübergehend. Da wird gelogen und betrogen, und Geheimnisse müssen über den Tod hinaus gewahrt werden. Barones Debüt gehört mit der Thematik der dysfunktionalen Familie zu einer wichtigen Untergruppe des amerikanischen Gegenwartsromans. Ich empfehle das Buch mit gewissen Einschränkungen.