Gottes Humor verstehen

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r.e.r. Avatar

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„Stellt man sich das Leben als Fluss vor, so können wir immer nur einen kleinen Teil davon sehen. Ein Stückchen vor uns, ein Stückchen hinter uns. Wir wissen nicht, wann wir an einen Nebenarm oder einen Wasserfall gelangen. Wenn man zurückrudern und sehen könnte, wie alles mit dem Meer verbunden ist. Wenn man die ganze Geschichte erfahren könnte. Dann würde man Gottes Humor verstehen. Man würde erkennen, dass die eigene Geschichte perfekt ist.“

Tracy Barone hat die perfekte Geschichte einer allzu unperfekten Familie geschrieben. Sie beginnt am 5. August 1962. Marilyn Monroe stirbt an einer Überdosis Tabletten. Jamaika feiert seine Unabhängigkeit und Nelson Mandela wird wegen unerlaubten Grenzübertritts in Südafrika verhaftet. In New York stöhnen die Menschen unter der Rekord Hitze. Und im St. Mercy Hospital in Trenton, New Jersey bringt die blutjunge Miriam ein uneheliches Kind zur Welt. Sie lässt ihre neugeborene Tochter allein in der Klinik zurück.

Cici Matzner wartet mit ihrem Mann Solomon auf die Geburt des sehnlich erwarteten ersten Kindes. Sie verliert ihr Baby und kann durch die notwendige Operation auch keine Kinder mehr bekommen. Noch Wochen später pumpt sie täglich Milch ab. Für den toten Sohn, der längst von seinem Vater begraben wurde. Solomon weiß sich keinen anderen Rat, als seiner Frau ein Ersatz-Baby zu bringen. Er adoptiert das kleine Mädchen. Und Cici kann „ihre“Tochter Cheri sogar stillen.

Der Beginn einer Familiengeschichte, die schon lange vorher begann. Und lange nach Ende des Buches weiterwirkt. Streckenweise ist man beim Lesen tatsächlich an Klassiker von John Irving erinnert, wie der Klappentext vollmundig verspricht. Wobei es weniger die skurrile Geschichte an sich, sondern eher die Art des Erzählens ist, die ähnlich wirkt. Barone nimmt sich viel Zeit. Sie beschreibt genau, geht detailliert auf Umstände und Hintergründe ein, lässt ein farbiges Bild entstehen. Man kann sie im besten Sinne als Romancier bezeichnen.

Das „wilde Leben“ von Cheri entpuppt sich beim Lesen jedoch als halb so wild. Es sind die üblichen Probleme einer Familie die Geheimnisse hat und deren Mitglieder nicht miteinander reden. Die üblichen Spannungen zwischen Tochter (adoptiert oder nicht) und Vater die von zu hohen oder falschen Erwartungen geprägt sind. Und die üblichen Enttäuschungen zwischen Mutter und Tochter. Es ist die große Kunst der Erzählerin, dass man beim Lesen alle Figuren lieb gewinnt, sich für sie erwärmen kann und ihnen Verständnis entgegenbringt. Tracy Barone nimmt den Leser mit auf eine Reise in die innersten Winkel der menschlichen Psyche.

Miriam, die junge Mutter vom Beginn der Geschichte hinterlässt im Krankenhaus eine Kette für ihr Baby. Billi, der Junge mit dem Wischmopp aus dem Krankenhaus, hat die Geburt des Kindes beobachtet und nimmt diese Kette an sich. Von diesem Tag an, wartet er darauf, dass die junge Frau zurückkommt um ihr Baby zu holen, damit er ihr die Kette wieder geben kann. Am Ende des Buches erfahren wir, ob bzw. wem er die Kette zurückgibt. Bis dahin hat meine interessante Lesereise mit Cheri und ihrer Familie verbracht und den „Humor Gottes“ ansatzweise verstanden. Und vielleicht auch gelernt „ein bisschen eher über all das zu lachen, was gemeinhin mit der Familiengeschichte (eigener oder fremder) zu tun hat.