Komplexe Familiengeschichte

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Der vorliegende Roman wurde aus dem Englischen übersetzt und trägt den Original-Titel „Happy Family“. Dazu passend stellt die Autorin den berühmten ersten Satz des Klassikers „Anna Karenina“ von Tolstoi voran: „Alle glücklichen Familien ähneln einander. Jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Art unglücklich“.
Es ist mir nach der Lektüre des Romans ein komplettes Rätsel, wie man daraus „Das wilde Leben der Cheri Matzner“ machen kann. Dieser trivial anmutende Titel in Zusammenhang mit dem Bildnis einer eher mondänen Frau in Badekleidung auf dem Cover könnte komplett die falsche Zielgruppe für diesen vielschichtigen , lesenswerten Familienroman ansprechen, was zwangsläufig Unzufriedenheit beim Leser nach sich ziehen könnte.

Nun zum Inhalt: Der erste Teil führt in den August 1962 und ist einigermaßen losgelöst von den übrigen drei Teilen. Miriam, eine drogenabhängige junge Frau, kommt in die Trenton-Klinik, um ihre Tochter auf die Welt zu bringen, die sie schließlich im Krankenhaus zurücklassen wird. Sie wird dabei von Billy Beal beobachtet, der dort gerade Sozialdienst ableistet und auch selbst kein einfaches Leben hat. Billy sorgt dafür, dass das kleine Mädchen als Pflegekind von seiner Mutter Sylvia übernommen wird.

Parallel zu dieser Handlung freut sich das gut situierte Paar Dr. Solomon und Cici Matzner auf die Geburt seines ersten Kindes. Kurz vor dem Termin kommt es jedoch zu Komplikationen: Cici erleidet eine Fehlgeburt. Das zusätzlich Dramatische: ihr muss die Gebärmutter entfernt werden, so dass sie nie wieder wird Kinder bekommen können. Cici fällt in tiefe Depressionen. 

Ihr Mann Solomon sieht als einzigen Ausweg, ein Kind zu adoptieren. Ohne Wissen seiner Frau lässt er seine Kontakte spielen und organisiert ein kleines, neu geborenes Mädchen, dem der Name Cheri gegeben wird. Hier laufen die beiden Erzählstränge zusammen. Cici nimmt das Kind von Herzen an, kann es sogar noch stillen. Von Beginn an fühlt sich der Vater ausgegrenzt, weil Cici das Baby völlig für sich vereinnahmt. Eine Tatsache, die im Verlauf der Geschichte bedeutsam sein wird.

Der zweite Teil springt ins Jahr 2002, wir lernen die erwachsene Cheri Matzner kennen, die als Professorin fürAltorientalistik und Fachfrau für alte Keilschriften an der Universität Studenten unterrichtet. Sie ist mit einem deutlich älteren Mann verheiratet. Die Ehe erscheint nicht glücklich. Ebenso ist das Verhältnis zur Mutter alles andere als entspannt…

Nach und nach erfährt der Leser Details über die Herkunftsfamilien des jüdischen Solomon und der katholischen Italienerin Cici. Auch dort war nichts einfach, Konflikte schwelen über Jahrzehnte hinweg. Die Autorin arbeitet mit spannenden Rückblicken, die Brüche im Leben der Protagonisten aufzeigen. 

Cheri war ein wilder Teenager, noch heute wird sie von Piercings und Tattoos geziert – doch das ist nur die Oberfläche. Sie ist eine Frau, die schon vor dem ein oder anderen zwischenmenschlichen Problem geflohen ist, anstatt es zu klären und zu lösen. Das liegt insbesondere an ihrer mangelnden Bereitschaft zur Kommunikation. Eisiges Schweigen herrscht nicht nur in der Beziehung zu ihrem Mann Michael, sondern auch zu ihrem Vater. Der Mutter geht sie lieber aus dem Weg, da diese sie mit ihrer Überliebe zu erdrücken droht. Damit einher geht bei Cheri eine bedingungslose Kompromisslosigkeit, was schon zu einem kompletten Neuanfang im Berufsleben und zum Bruch mit dem Vater führte. 

Der Leser bekommt immer wieder interessante Einblicke in die Vergangenheit, die diesen komplexen Charakter Cheris aufzeigen und erklären. Das gestaltet die Familiengeschichte ungeheuer spannend. Hinzu tritt die aktuelle Problematik, dass ihre Universität eine Untersuchung durchführt, die beweisen soll, dass Cheri sich einem Studenten gegenüber diskriminierend verhalten hat. Auch in diesem Zusammenhang handelt sie unglaublich geradlinig, will sich nicht verbiegen lassen, und das, obgleich ihre Karriere damit am seidenen Faden hängt. Leider treten auch in ihrer Ehe treten tragische Veränderungen ein…

Die Geschichte liest sich leicht, der Inhalt ist es aber nicht. Es geht um Verfehlungen, Untreue, Verrat, um Abschied und Trauer. Es geht um das, was eine Familie ausmacht und was sie zusammenhält. Es geht auch um Verzeihen und Neuanfang.
Inwiefern sind ererbte DNA und Herkunft für unser Sein verantwortlich, inwiefern Umfeld, Erziehung und Sozialisation?

Der Roman verzeichnet viele Wendungen und Themen, die ihn sehr kurzweilig machen, dabei aber stetig zum Nachdenken über das Gelesene anregen. Ich habe das Buch sehr gerne gelesen. Abgesehen vom Titel möchte ich nichts kritisieren und vergebe mit vier Sternen gerne eine Lese-Empfehlung - insbesondere an jene, die komplexe Familiengeschichten lieben.