Die Kraft der Liebe

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r.e.r. Avatar

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„Wer kann schon bestimmen, wie viel er liebt? Wenn man es bestimmen kann, ist es keine Liebe“. So beginnt der Roman „Die einzige Geschichte“ von Julian Barnes. Die zehnjährige weibliche Heldin aus Adeline Dieudonnés Roman liebt ihren kleinen Bruder. Und diese Liebe, ist das bestimmbare Gefühl, dass sie antreibt, ihn zu retten.

Ich habe „Das wirkliche Leben“ in dreieinhalb Stunden gelesen, unfähig das Buch aus der Hand zu legen. Eine unauffällige Reihenhaussiedlung irgendwo am Waldrand in der französischen Provinz. Eine Familie die nur nach außen hin normal scheint. Im Innern des Hauses bereitet die „Amöbe“ Mutter farb- und geschmacklose Gerichte zu, während der Whisky trinkende Vater auf dem Sofa vor dem Fernseher sitzt. Die Mutter ist vor allem darum bemüht nicht aufzufallen um dem Vater keine Angriffsfläche zu bieten. Dessen Gewaltausbrüche einzig von seiner Jagdleidenschaft reguliert werden, weshalb es im Haus „das Zimmer“ gibt. Ein Raum der nur den erlegten Trophäen gewidmet ist. Ausgestopfte Beweise seiner Siege über wehrlose Beute.

Als die Kinder Zeuge einer Tragödie werden, ist niemand da um sie aufzufangen. „Ich wünschte mir nichts mehr, als dass ein Erwachsener, irgendeiner, mich an der Hand nahm und zu Bett brachte. Und für mich die Dinge wieder zurechtrückte. Mir erklärte, dass es selbst nach so einem Tag ein Morgen gab, und dann ein Übermorgen. Und dass mein Leben irgendwann in die gewohnten Bahnen zurückkehren und all das Blut und die Angst und der Schrecken in Vergessenheit geraten würden. Aber niemand kam.“ Und so beschließt das Mädchen „nicht tatenlos zuzuschauen, wie das Geschmeiß weiter das Gehirn“ des kleinen Bruders zerfrisst.

Selten hat mich ein Roman so hin- und hergerissen. Rohe Sätze wechseln sich ab mit Worten voll poetischer Schönheit. Die Sprache ist kraftvoll, eindringlich und in ihrer unmittelbaren Wucht manchmal unerträglich und dabei oft schier unerträglich schön. Die Ich-Erzählerin schildert, was sie sieht, was sie erlebt, was sie fühlt und denkt, mit den Worten einer reinen Seele, die „das wirkliche Leben“ hinter der sie umgebenden Zerstörungswut ahnt. „Es gibt Dinge, die man einfach nicht akzeptieren kann. Weil man sonst daran krepiert. Und ich wollte nicht sterben. Denn ich bekam gerade erst eine Ahnung davon, wie schön das Leben sein könnte.“.

Die Autorin braucht nicht viele Worte um Angst auszulösen, Gewalt zu beschreiben, Wut eskalieren zu lassen, Hilflosigkeit auszudrücken oder den Adrenalinspiegel nach oben schnellen zu lassen. Ebenso sicher findet sie aber auch die richtigen Worte um die allumfassende, heilende Kraft der Liebe zu feiern. Mir fiel dabei die Stelle aus dem Korintherbrief ein: „.... und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts. Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“ Der Beweis wäre mit diesem Roman erbracht. In einer Tiefe, die trotz der Kürze des Romans Spuren hinterlässt.